Das Buch "Boxhagen beginnt" erzählt Geschichte des Freudenberg-Areals

Die Belegschaft der Deutschen Kabelwerke versammelt sich auf dem Grundstück vor der neuen Fabrik in Boxhagenen, aufgenommen um 1896. | Foto: Tomas S. Hirschmann
10Bilder
  • Die Belegschaft der Deutschen Kabelwerke versammelt sich auf dem Grundstück vor der neuen Fabrik in Boxhagenen, aufgenommen um 1896.
  • Foto: Tomas S. Hirschmann
  • hochgeladen von Thomas Frey

Friedrichshain."Ich werde nie das Gefühl vergessen, als meine Mutter plötzlich ihre Fingernägel in meinem Arm vergrub. Die Gebäude waren verfallen. Aber für sie waren sie ein Blick in ihre Vergangenheit, selbst nach über einem halben Jahrhundert problemlos wiederzuerkennen."

So beschreibt Tomas S. Hirschmann die erste Wiederannäherung seiner Familie im Jahr 1990 an ein Grundstück, das ihr einst gehörte: die heute unter dem Namen Freudenberg-Areal bekannte Fläche zwischen Boxhagener- und Weserstraße. Die Zeilen stehen im Vorwort zu dem Buch "Boxhagen beginnt", das in diesen Tagen erscheint.

Das Gelände war nicht nur Schauplatz von Bezirks- und Industriegeschichte. Es ist auch wichtiger Teil einer Familiensaga, deren Mitglieder, ihrer Heimat und ihres Besitzes beraubt, erst jetzt die gebührende Würdigung finden.

Auf dem Freudenberg-Areal baut das Immobilienunternehmen Bauwert derzeit ein neues Quartier mit mehr als 600 Wohnungen, Geschäften, Kita und einer öffentlichen Grünfläche. Um das Vorhaben hat es viele Diskussionen gegeben. Auch die Vergangenheit spielte dabei teilweise eine Rolle, so als Ende 2014 alte Grabstellen ausgehoben wurden. Sie gehörten zu einem ehemaligen Friedhof. Der wurde ab Ende des 19. Jahrhunderts vom Firmenkonglomerat von Siegfried Hirschmann umrahmt. Siegfried Hirschmann war der Großvater von Tomas S. Hirschmann. Der Enkel lebt in Guatemala, wo er 1938 zur Welt kam. Dorthin waren seine Eltern und Großeltern als deutsche Juden vor den Nazis geflohen.

Berliner Wurzeln erforscht

Nicht nur der Gräberfund war für den SPD-Abgeordneten Sven Heinemann ein Anlass, sich mit der Geschichte des Grundstücks zu beschäftigen. Er stieß mit Hilfe des Moses-Mendelssohn-Zentrums in Potsdam auf Tomas S. Hirschmann. Der forschte selbst nach seinen Berliner Wurzeln und war im Besitz von bisher unbekannten Fotos, die im Buch zum ersten Mal veröffentlicht werden.

Der damals 32-jährige Siegfried Hirschmann erwirbt 1895 die Grundstücke Boxhagen 7 und 8 und errichtet darauf eine Fabrik. 1890 hatte er in Berlin eine Firma gegründet, die Gummi und isolierte Kupferleiter herstellt. Mit dem Umzug nach Boxhagen werden daraus die Deutschen Kabelwerke (DKW), später die Deutsche Kabelwerke Aktiengesellschaft. Daran beteiligt sind weitere Familienmitglieder. Zum Herstellen von Kabel und der Gummiproduktion kommen weitere Geschäftsfelder. Etwa die Reifensparte. Auch Automobile werden gebaut, konkret das Dreirad Cyklonette. Weil die Fläche an der Boxhagener Straße nicht mehr ausreicht, entsteht 1921 in der Nähe von Fürstenwalde ein weiteres Werk, es gibt Firmen und Dependancen im Ausland.

Deutsche Kabelwerke werden "arisiert"

Bei der Machtübernahme der Nationalsozialisten 1933 ist der fast 70-jährige Siegfried Hirschmann noch immer Vorstandsvorsitzender der Deutschen Kabelwerke. Sein Bruder Bernhard steht dem Aufsichtsrat vor. Sehr schnell wird ihnen deutlich gemacht, dass ihr Unternehmen "arisiert" werden soll. Wahrscheinlich um dem Nachdruck zu verleihen, wird ein Ermittlungsverfahren wegen angeblicher Untreue und Bilanzverschleierung initiiert. Siegfried Hirschmann kommt bis November 1933 in Untersuchungshaft. Der Prozess endet zwar mit Freispruch, aber die Familie wird zur Aufgabe ihres Besitzes genötigt. Die Dresdner Bank, schon zuvor Großaktionär, erwirbt die Anteile der Hirschmanns zu einem Preis völlig unter Wert, wie 74 Jahre später höchstrichterlich festgestellt wird. Verkauft werden sie danach viel teurer an die Kabelwerke Rheydt. Während des Zweiten Weltkriegs ist die Firma ein Rüstungsbetrieb. Auch Zwangsarbeiter sind dort beschäftigt.

Siegfried Hirschmann und seine Frau Frieda verlassen Deutschland am 3. August 1939 und damit im allerletzten Moment vor Kriegsbeginn. Erste Station ist London. Dort lebt bereits ihre Tochter Elise Reiffenberg. Sie ist unter dem Namen Gabriele Tergit als Gerichtsreporterin und Schriftstellerin in der Weimarer Republik bekannt geworden, vor allem durch ihren Roman "Käsebier erobert den Kurfürstendamm" (1931). An Gabriele Tergit erinnert heute eine Promenade am Potsdamer Platz.

Auch andere Mitgliedern der Familie waren inzwischen ausgewandert. Aber nicht alle. Wer bleibt, wie drei Schwestern von Siegfried Hirschmann, wird in den Vernichtungslagern ermordet. Siegfrieds Sohn Ernst, ab 1917 ebenfalls bei den Deutschen Kabelwerken beschäftigt, emigriert 1936 mit seiner Frau Lisa nach Guatemala. Dort treffen im November 1939 seine Eltern ein. Mit nichts weiter als einem kleinen Koffer. Ihre Möbel und weiterer Besitz sind im Hamburger Hafen "verloren gegangen". Siegfried Hirschmann stirbt am 8. März 1942.

Enteignung und Entschädigung

Nach Kriegsende und den Enteignungen auf dem Gebiet der DDR werden die Kabelwerke zum Volkseigenen Betrieb (VEB). Danach gibt es mehrere Um- und Neustrukturierungen. Hergestellt werden zuletzt Produkte vom Handschuh bis zur Dichtung.

Anfang 1992 verkauft die Treuhand das Werk an die Firma Freudenberg. Freudenberg zieht 2011 nach Adlershof und veräußert das Gelände an die Bauwert.

Die Hirschmann-Erben bemühen sich lange mit geringem Erfolg um eine zumindest materielle Wiedergutmachung. 1990 beantragen sie die Rückübertragung des Betriebs- und Grundvermögens der Deutschen Kabelwerke. Das wird vom Berliner Landesamt zur Regelung offener Vermögensfragen 1999 abgelehnt. Allerdings spricht es ihnen für den Verlust der Aktienanteile einen Anspruch auf Entschädigung zu. Den bekräftigt zehn Jahre später in letzter Instanz das Bundesverwaltungsgericht und legt die Summe auf rund 730 000 Euro fest.

Ein "glücklicher Abschluss"

Tomas S. Hirschmann hat nach eigenen Angaben erst spät begonnen, sich näher mit seiner Familiengeschichte zu beschäftigten. Auslöser war der eingangs beschriebene Besuch mit seiner Mutter an der Boxhagener Straße. Dass auf dem Gelände seines Großvaters jetzt 600 Wohnungen für Familien entstehen, bedeutet für ihn "einen glücklichen Abschluss einer beeindruckenden Familiengeschichte".

Die Bauwert hat die Herstellungskosten für das Buch übernommen und ist neben Sven Heinemann Herausgeber. Der Autor verzichtet auf ein Honorar, der Verkaufspreis von zehn Euro dient als Spende.

Auf dem Areal wird künftig ebenfalls an die Vergangenheit erinnert. Der zentrale Platz soll nach Siegfried Hirschmann heißen. tf

"Boxhagen beginnt" ist derzeit im Druck und kann vorbestellt werden: Bauwert AG,  832 11 50, E-Mail: info@bauwert.de. oder Wahlkreisbüro von Sven Heinemann, Grünberger Straße 4,  29 36 33 64, E-Mail: sven.heinemann@spd.parlament-berlin.de
Autor:

Thomas Frey aus Friedrichshain

following

Sie möchten diesem Profil folgen?

Verpassen Sie nicht die neuesten Inhalte von diesem Profil: Melden Sie sich an, um neuen Inhalten von Profilen und Orten in Ihrem persönlichen Feed zu folgen.

47 folgen diesem Profil

Kommentare

online discussion

Sie möchten kommentieren?

Sie möchten zur Diskussion beitragen? Melden Sie sich an, um Kommentare zu verfassen.

Beitragsempfehlungen

WirtschaftAnzeige
Foto: pexels/Giulia Freitas
5 Bilder

Mode oder mehr?
Piercing. Von alten Ritualen bis zu moderner Kunst

Ist das Modeakzent oder kulturelles Erbe? Auf jeden Fall ist Piercing die beliebteste und gefragteste Körpermodifikation der Welt, die sowohl persönliche Vorlieben und Modetrends als auch tiefe kulturelle Traditionen widerspiegelt. Was ein modisches Piercing heute ist und wie es sich im Laufe der Zeit verändert hat, erfahren wir zusammen mit VEAN TATTOO in diesem Artikel. Eine der beliebtesten Arten von Piercings ist das Ohrlochstechen. Ein Klassiker aller Zeiten, ist das wirklich so und woher...

  • Mitte
  • 17.04.24
  • 242× gelesen
Gesundheit und MedizinAnzeige
Wenn auch Sie mehr über Ihre Schulterbeschwerden erfahren möchten und sich über mögliche Behandlungsansätze informieren möchten, kommen Sie zum Informationsabend am 23. Mai. | Foto: B. BOISSONNET / BSIP

Wir informieren Sie
Schmerzen in der Schulter – Ursachen und Behandlungen

Schmerzen in der Schulter können vielfältige Ursachen haben – sei es durch Unfälle oder Verschleißerscheinungen. Diese Ursachen können die Beweglichkeit beeinträchtigen und die Lebensqualität stark einschränken. Unsere Experten, Dr. med. Louise Thieme und Robert Tischner, Teamchefärzte des Caritas Schulter- und Sportorthopädiezentrums, werden bei unserem Informationsabend speziell auf die Problematik von Schulterbeschwerden eingehen – vom Riss der Rotatorenmanschette bis zur Arthrose. Sie...

  • Pankow
  • 18.04.24
  • 209× gelesen
Gesundheit und Medizin
Wenn Hüfte oder Knie schmerzen, kann eine Arthrose die Ursache sein.

Infos für Patienten
Spezialthema: Arthrose in Hüft- und Kniegelenken

Sie leiden unter Schmerzen im Knie- und Hüftgelenk? Diese Beschwerden können verschiedene Ursachen haben, wie beispielsweise Unfälle, Verschleißerscheinungen, angeborene oder erworbene Fehlstellungen. Die Auswirkungen beeinflussen nicht nur die Beweglichkeit, sondern auch die Lebensqualität entscheidend. An diesem Infoabend möchten wir speziell auf die Arthrose in Knie- und Hüftgelenken eingehen. Die Behandlung von Arthrose erfolgt individuell aufgrund der vielfältigen Ursachen und...

  • Pankow
  • 19.04.24
  • 126× gelesen
Gesundheit und MedizinAnzeige
Langanhaltende Schmerzen können ein Anzeichen für Gallensteine sein.  | Foto: Caritas-Klinik Dominikus

Wann ist eine OP sinnvoll?
Infos zu Gallensteinen und Hernien

Leiden Sie unter belastenden Gallensteinen oder Hernien (Eingeweidebruch) Langanhaltende Schmerzen begleiten viele Betroffene, unabhängig des Lebensalters, bevor sie ärztliche Hilfe in Anspruch nehmen. Eine frühzeitige Diagnose und Behandlung können jedoch häufig Komplikationen vermeiden. Wir sind auf die Behandlung dieser Probleme spezialisiert und bieten Ihnen erstklassige allgemein- und viszeralchirurgische Expertise. Von Diagnostik bis Nachsorge: Wir kümmern uns individuell um Ihre...

  • Reinickendorf
  • 17.04.24
  • 236× gelesen
Jobs und KarriereAnzeige
Foto: VEAN TATTOO
4 Bilder

Tattoo-Kurse
Ausbildung für Topberuf des letzten Jahrzehnts

Eine Frage, die immer aktuell ist, auch wenn man schon vor langer Zeit erwachsen ist. Sehr oft entscheiden wir uns aufgrund des sozialen Drucks für einen Beruf. Wie oft haben Sie sich gefragt, was aus Ihnen geworden wäre, wenn Sie auf sich selbst gehört hätten? VEAN TATTOO hat diese wichtige Frage vor zwölf Jahren ehrlich für sich selbst beantwortet und reicht daher ohne Zweifel allen, die über ihren ersten oder neuen Beruf nachdenken, eine helfende Hand. Es liegt an Ihnen, zu entscheiden,...

  • Mitte
  • 25.03.24
  • 1.569× gelesen
  • 1
add_content

Sie möchten selbst beitragen?

Melden Sie sich jetzt kostenlos an, um selbst mit eigenen Inhalten beizutragen.