Stolpern über die Erinnerung: Im Bezirk wurden neue Gedenkquader verlegt

Michael Gronau (rechts) und weitere Familienmitglieder am Stolperstein für seine Tante Ilse Charmatz an der Fontanepromenade. | Foto: Thomas Frey
9Bilder
  • Michael Gronau (rechts) und weitere Familienmitglieder am Stolperstein für seine Tante Ilse Charmatz an der Fontanepromenade.
  • Foto: Thomas Frey
  • hochgeladen von Thomas Frey

Friedrichshain-Kreuzberg.776 Stolpersteine gab es bisher in Friedrichshain-Kreuzberg. Am 12. November kamen mehr als 20 neue hinzu.

Die Stolpersteine erinnern an Menschen, die während der Nazizeit verfolgt und meist ermordet wurden. Gewürdigt werden auf diese Weise alle Opfergruppen, jüdische Mitbürger ebenso wie Widerstandskämpfer, Homosexuelle, Zwangsarbeiter, Deserteure.

Die zehn Mal zehn Zentimeter großen Gedenkzeichen befinden sich meist vor der letzten Adresse im Straßenland. Oft bedeuten sie eine Art Grabsteinersatz. Denn wer in einem Vernichtungslager umgekommen ist, hat keinen Platz auf einem Friedhof. Verzeichnet ist jeweils der Name, das Geburtsjahr und das Todesdatum. Ist letzteres unbekannt, steht der Tag der Deportation.

Das Verlegen eines Stolpersteins kann von jedem beantragt werden. Die Motivation dafür ist ganz unterschiedlich, wie nicht nur die vielen Termine am 12. November zeigten. Es können sich Nachbarn zusammenfinden, die sich mit dem Schicksal einstiger Bewohner ihres Hauses beschäftigt haben, Vereine, Parteien, Opferverbände oder Initiativen. Und nicht selten Familienangehörige und Nachkommen aus aller Welt.

Ori Wolff (80) lebt in der Nähe von Tel Aviv. Zusammen mit seinen drei Kindern und einem einjährigen Enkel kam er nach Berlin. Ihre Stolpersteine erinnern an Emma und Friederike Wolff. Die beiden Frauen, 1857 und 1863 geboren, waren Schwestern seines Großvaters. Sie betrieben in der damaligen Tempelherrenstraße 12, heute Carl-Herz-Ufer 23, eine Schneiderei. 1943 kamen sie nach Theresienstadt. Das letzte Lebenszeichen von ihnen habe es ein Jahr zuvor durch eine vom Roten Kreuz vermittelte Postkarte gegeben, erzählt Ori Wolff. Sein Vater Wilhelm sei dem Holocaust entkommen, weil er schon 1925 in das damalige Palästina ausgewandert ist. Bis zu seinem Tod habe er sich geweigert, noch einmal nach Deutschland zu reisen, sagt sein Sohn. "Ich weiß nicht, was er dazu sagen würde, dass ich heute hier stehe."

Aus Haifa kam Professor Michael Gronau (76) mit seiner Familie. Ihr Stolperstein erinnert an der Fontanepromenade 10 an Ilse Charmatz, die Schwester seiner Mutter Lilli. Ilse und Lilli lebten dort mit ihrer Mutter, bis beide heirateten. Ilse emigrierte mit ihrem Mann Salomon nach 1933 in die Niederlande, Lilli nach Palästina. 1939 kam es dort zu einem Treffen. Michael Gronau zeigt Fotos von diesem Besuch. Lilli Gronau ist damals schwanger. "Das Kind in ihrem Bauch bin ich." Als Holland von deutschen Truppen besetzt wurde, lebten Ilse und Salomon Charmatz in einem Versteck, wurden dort verraten und nach Auschwitz deportiert. Für Salomon fehle bisher ein Stolperstein, sagt Michael Gronau. Auch den soll es noch geben.

Ähnlich klingt das bei Margarete Nudel. Sie kommt aus Stockholm, steht mit ihrem Mann und den drei Söhnen vor dem heutigen Haus Barnimstraße 18, früher Barmimstraße 31. Dort lebte die Familie Loewinski, Vater Georg, Mutter Margarete die Söhne Siegfried, Günter und Heinz. Nach dem Sprachgebrauch der Nazis handelte es sich um eine "Mischlingsfamilie", denn Margarete war nicht jüdisch. Da sie eine Scheidung verweigerte, konnte sie einen Großteil der Familie vor dem Transport in die Vernichtungslager schützen. "Sie gehörte zu den Frauen, die im Februar 1943 in der Rosenstraße aufmarschierten, um ihre eingesperrten Angehörigen wieder freizubekommen", weiß die Enkelin. Georg Loewinski, Günter, der Vater von Margarete Nudel, und Heinz überlebten so den Holocaust. Anders Siegfried, der im Krieg eine jüdische Frau geheiratet hatte. Das Ehepaar und ihr Kleinkind wurden in Auschwitz ermordet. "Meinen Vornamen trage ich wegen meiner Großmutter", erzählt Margarete Nudel.

Es sind solche Geschichten, die den Namen auf den Stolpersteinen ein Leben geben. Und selbst wer nur an ihnen vorbeiläuft, stolpert über die Erinnerung. tf

Autor:

Thomas Frey aus Friedrichshain

following

Sie möchten diesem Profil folgen?

Verpassen Sie nicht die neuesten Inhalte von diesem Profil: Melden Sie sich an, um neuen Inhalten von Profilen und Orten in Ihrem persönlichen Feed zu folgen.

47 folgen diesem Profil

Kommentare

online discussion

Sie möchten kommentieren?

Sie möchten zur Diskussion beitragen? Melden Sie sich an, um Kommentare zu verfassen.

Beitragsempfehlungen

WirtschaftAnzeige
Foto: pexels/Giulia Freitas
5 Bilder

Mode oder mehr?
Piercing. Von alten Ritualen bis zu moderner Kunst

Ist das Modeakzent oder kulturelles Erbe? Auf jeden Fall ist Piercing die beliebteste und gefragteste Körpermodifikation der Welt, die sowohl persönliche Vorlieben und Modetrends als auch tiefe kulturelle Traditionen widerspiegelt. Was ein modisches Piercing heute ist und wie es sich im Laufe der Zeit verändert hat, erfahren wir zusammen mit VEAN TATTOO in diesem Artikel. Eine der beliebtesten Arten von Piercings ist das Ohrlochstechen. Ein Klassiker aller Zeiten, ist das wirklich so und woher...

  • Mitte
  • 17.04.24
  • 242× gelesen
Gesundheit und MedizinAnzeige
Wenn auch Sie mehr über Ihre Schulterbeschwerden erfahren möchten und sich über mögliche Behandlungsansätze informieren möchten, kommen Sie zum Informationsabend am 23. Mai. | Foto: B. BOISSONNET / BSIP

Wir informieren Sie
Schmerzen in der Schulter – Ursachen und Behandlungen

Schmerzen in der Schulter können vielfältige Ursachen haben – sei es durch Unfälle oder Verschleißerscheinungen. Diese Ursachen können die Beweglichkeit beeinträchtigen und die Lebensqualität stark einschränken. Unsere Experten, Dr. med. Louise Thieme und Robert Tischner, Teamchefärzte des Caritas Schulter- und Sportorthopädiezentrums, werden bei unserem Informationsabend speziell auf die Problematik von Schulterbeschwerden eingehen – vom Riss der Rotatorenmanschette bis zur Arthrose. Sie...

  • Pankow
  • 18.04.24
  • 205× gelesen
Gesundheit und Medizin
Wenn Hüfte oder Knie schmerzen, kann eine Arthrose die Ursache sein.

Infos für Patienten
Spezialthema: Arthrose in Hüft- und Kniegelenken

Sie leiden unter Schmerzen im Knie- und Hüftgelenk? Diese Beschwerden können verschiedene Ursachen haben, wie beispielsweise Unfälle, Verschleißerscheinungen, angeborene oder erworbene Fehlstellungen. Die Auswirkungen beeinflussen nicht nur die Beweglichkeit, sondern auch die Lebensqualität entscheidend. An diesem Infoabend möchten wir speziell auf die Arthrose in Knie- und Hüftgelenken eingehen. Die Behandlung von Arthrose erfolgt individuell aufgrund der vielfältigen Ursachen und...

  • Pankow
  • 19.04.24
  • 117× gelesen
Gesundheit und MedizinAnzeige
Langanhaltende Schmerzen können ein Anzeichen für Gallensteine sein.  | Foto: Caritas-Klinik Dominikus

Wann ist eine OP sinnvoll?
Infos zu Gallensteinen und Hernien

Leiden Sie unter belastenden Gallensteinen oder Hernien (Eingeweidebruch) Langanhaltende Schmerzen begleiten viele Betroffene, unabhängig des Lebensalters, bevor sie ärztliche Hilfe in Anspruch nehmen. Eine frühzeitige Diagnose und Behandlung können jedoch häufig Komplikationen vermeiden. Wir sind auf die Behandlung dieser Probleme spezialisiert und bieten Ihnen erstklassige allgemein- und viszeralchirurgische Expertise. Von Diagnostik bis Nachsorge: Wir kümmern uns individuell um Ihre...

  • Reinickendorf
  • 17.04.24
  • 235× gelesen
Jobs und KarriereAnzeige
Foto: VEAN TATTOO
4 Bilder

Tattoo-Kurse
Ausbildung für Topberuf des letzten Jahrzehnts

Eine Frage, die immer aktuell ist, auch wenn man schon vor langer Zeit erwachsen ist. Sehr oft entscheiden wir uns aufgrund des sozialen Drucks für einen Beruf. Wie oft haben Sie sich gefragt, was aus Ihnen geworden wäre, wenn Sie auf sich selbst gehört hätten? VEAN TATTOO hat diese wichtige Frage vor zwölf Jahren ehrlich für sich selbst beantwortet und reicht daher ohne Zweifel allen, die über ihren ersten oder neuen Beruf nachdenken, eine helfende Hand. Es liegt an Ihnen, zu entscheiden,...

  • Mitte
  • 25.03.24
  • 1.568× gelesen
  • 1
add_content

Sie möchten selbst beitragen?

Melden Sie sich jetzt kostenlos an, um selbst mit eigenen Inhalten beizutragen.