Beobachtungen im "Bus der Hölle": Der M29 als täglicher Kreuzberger Mikrokosmos

Einmal quer durch Kreuzberg: die Buslinie M29.
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Seine Strecke verläuft vom Hermannplatz in Neukölln zum Roseneck im Grunewald. Mehr als 15 Kilometer und, nach Fahrplan, 62 Minuten Fahrzeit einmal quer durch alle Facetten von Berlin.

Ungefähr ein Drittel davon verkehrt die Buslinie M29 durch Kreuzberg, beginnend an der Glogauer Straße und endend an der Schöneberger Brücke. Wenn alles planmäßig verläuft, 21 Minuten von Südost bis Nordwest, vorbei an mehreren Hotspots dieses Ortsteils.

Der Bus hat unter den Berliner Linien inzwischen einen besonderen Status. Auch eine Facebook-Seite mit aktuell mehr als 3400 "Freunden" ist ihm gewidmet. Das Wort nicht nur wegen der schnellen Freundbezeichnung dieses Social-Media-Anbieters in Anführungszeichen. Denn viele Posts beschäftigen sich mit den Unwägbarkeiten und Ärgernissen dieser auch "Bus der Hölle" genannten Verbindung.

Geklagt oder sich darüber lustig gemacht wird zum Beispiel über die unregelmäßigen Ankunftszeiten. Es stimmt, die Zeithinweise an der Haltestelle können die Nutzer häufig vergessen. Regulär ist tagsüber an den Wochentagen und auf den meisten Abschnitten ein Stop im Fünf-Minuten-Takt. Allen Beteuerungen der BVG zum Trotz haut das selten hin. Mal kommt zehn Minuten kein Bus, dann kommen wieder zwei oder drei hintereinander. Das gibt natürlich lustige Fotos, wenn sich wieder mehrere große Gelbe auf beiden Straßenseiten stauen.

Verantwortlich für die Verspätungen sind Hindernisse auf der Route. Etwa das Zweite-Reihe-oder wilde Parken auf der Oranienstraße. Ebenso wie das hohe Fahrgastaufkommen. Rund 55 000 Menschen nutzen die Strecke an einem Wochentag. Etwa 200 Fahrten gibt es während dieser Zeit in jede Richtung. Vor allem zu Zeiten der Rushhour werden Kapazitätsgrenzen deutlich – trotz der Doppelstockbusse, die meist auf der Linie verkehren. Drängeln, drücken, schieben, damit jeder mitkommt. Auch die Mutti mit dem Kinderwagen und der Rentner und sein Rollator.

Wer mobiler ist, flüchtet auf das Oberdeck, wo sich trotz Gedränge oft noch ein Sitzplatz ergattern lässt. Dort spielt ohnehin das wahre Leben. Schon weil manche Fahrgäste nicht nur ihr Smartphone traktieren, sondern noch kommunizieren. Wenn auch häufig auf eigene Weise. So wie die beiden Jungs, vielleicht 16 oder 17. Der eine saß schon im Bus, der andere steigt am Moritzplatz zu. "Eh Alta", ruft der Neuankömmling. "Digga", kreischt der Kumpel zurück. Umarmung. "Was los? Schule?", fragt der gerade Eingestiegene. "Scheiße, die Lehrer peilen null." "Echt?" "Jenny haben sie rausgeschmissen." "Krass. Und Hakan?" "Macht jetzt auf Streber." "Glaub ich nicht." "Bei dir? Lehre und so?" "Langweilig. Muss ständig Kaffee kochen." Der Austausch endet, als der Azubi an der Charlottenstraße aussteigt.

Solche Performances gibt es immer wieder im M29. Schon weil sich hier oft Bekannte treffen. Mag die Linie auch bis in den weiten Westen reichen, von vielen Kreuzbergern wird sie eher als Kurzstrecke genutzt. Dazu kommen häufig Touristen. Gerne Schulklassen auf Berlinreise, die den Bus bei ihrer Tour von einem Museum zum nächsten nutzen. Sie sind ebenfalls gut für manche Einakter, die einem beim 29er weniger an die Hölle, sondern mehr an ein Zusammentreffen verschiedenster Bevölkerungsgruppen und ihre Befindlichkeiten denken lassen.

Auch der via Facebook immer wieder beklagte rüde Umgang der Busfahrer mit ihrer Kundschaft kann so nicht bestätigt werden. Eher herrscht der Eindruck vor, dass eher die coole Fraktion der Chauffeure, seltener Chauffeurinnen, im Einsatz ist. Auf das akkurate Vorzeigen des Tickets legen manche weniger Wert, als auf das schnelle Einsteigen. Und wenn doch mal einer ein "Zurückbleiben" oder "Die Tür freimachen" ins Mikro dröhnt, dann liegt das vor allem daran, dass der Bus schon wieder Verspätung hat.

Abends und nachts ist der M29 oft das Beförderungsmittel für Partyhopper. Aber auch Angriffe auf Fahrer oder andere Auseinandersetzungen werden gerade zu diesen Zeiten immer wieder aktenkundig. Darauf weisen die Facebook-Freunde ebenfalls hin. Was natürlich Nahrung für ihr Hölle-Gefühl gibt. In Kontrast dazu stehen manche Fahrten am späten Vormittag. Die Zahl der Passagiere ist überschaubar. Trotz vieler freier Sitzgelegenheiten bleiben manche wie angeklebt an der Ausgangstür stehen. Der Bus bewegt sich durch die Kreuzberger Straßen, umkurvt ihre Hindernisse. Er ähnelt einem Schiff, das trotz Wellen auf seiner Route bleibt.

Überhaupt passt der Vergleich mit der Seefahrt zu ihm besser, als der mit der Hölle. Der Kahn ist sturmerprobt. Seine Passagiere sind mal mehr, mal wenig angenehm. Es gibt laue und raue Brisen. Letztere verträgt nicht jeder und wird seekrank. Dabei erlebt er im M29 nur den Berliner und speziell den Kreuzberger Mikrokosmos.

Autor:

Thomas Frey aus Friedrichshain

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