Immer mehr Menschen sind obdachlos: Politiker fordern Hilfe vom Bund und der EU

Trafen sich in der HalleLuja, einer Traglufthalle für die Kältehilfe,  zum Gespräch: die Linken-Politiker Gesine Lötzsch und Michael Grunst sowie Pfarrer Joachim Lenz. | Foto: Berit Müller
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  • Trafen sich in der HalleLuja, einer Traglufthalle für die Kältehilfe, zum Gespräch: die Linken-Politiker Gesine Lötzsch und Michael Grunst sowie Pfarrer Joachim Lenz.
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Lichtenberg. Rund 40 000 Menschen in Berlin sind wohnungslos; die Zahl der Frauen und Männer ohne jegliche Bleibe liegt zwischen 5000 und 10 000. Tendenz steigend. Der Berliner Senat hat seine Ausgaben für die Kältehilfe bereits aufgestockt. Politiker wie Bürgermeister Michael Grunst und die Bundestagsabgeordnete Gesine Lötzsch (beide Die Linke) sehen auch den Bund und die EU in der Pflicht.

HalleLuja – so hat die Berliner Stadtmission ihre Traglufthalle für die Kältehilfe getauft, die seit dem vorigen Jahr am ehemaligen Containerbahnhof hinter dem Ringcenter II steht. Im XXL-Zelt nahe der Möllendorffstraße reihen sich Doppelstockbetten dicht an dicht, es gibt ein paar Gartenbänke und -tische, an einer Theke schenken Sozialarbeiter heißen Tee und Kaffee aus. Warm ist es in der Halle, gemütlich nicht. „Soll‘s ja auch nicht sein“, sagt Pfarrer Joachim Lenz, Direktor der Berliner Stadtmission. „Wir bieten hier Notschlafplätze an, damit in den kalten Winternächten niemand erfrieren muss. Grundsätzlich möchten wir die Menschen aber dauerhaft von der Straße holen. Also ist es ganz in Ordnung, wenn sie sich hier nicht zu wohlfühlen.“

Seit Anfang November und bis Ende März öffnet die HalleLuja täglich von 21 bis 9 Uhr und bietet 120 Männern schon ein wenig mehr als bloß eine Schlafstätte. Sie bekommen abends einen warmen Eintopf, morgens ein kleines Frühstück und die Möglichkeit, sich oder ihre Sachen zu waschen. Außerdem sind Sozialarbeiter vor Ort, die mit den Männern sprechen. Oft auf Polnisch, Rumänisch, Bulgarisch, Russisch. Die Helfer beraten, geben Tipps zu Anlaufstellen, dauerhaften Unterkünften und suchen, wenn gewollt, gemeinsam mit den Männern nach Wegen aus der Obdachlosigkeit.

Weil die Halle – wenn auch knapp – auf Friedrichshainer Gebiet steht, zahlt das Sozialamt des Nachbarbezirks die 5000 Euro Standmiete an den Eigentümer des Geländes, die Deutsche Bahn. Und es trägt auch die Kosten für die nächtliche Sozialarbeit. Die Lichtenberger Bundestagsabgeordnete Gesine Lötzsch findet, das Bezirks- oder Ländergrenzen beim Thema Obdachlosigkeit keine Rolle spielen sollten. „75 Prozent der Menschen, die in Berlin auf der Straße leben und im Winter auf die Notschlafplätze zurückgreifen, kommen aus Osteuropa“, berichtet die Politikerin. „Deshalb sind hier nicht nur die Bezirke oder das Land Berlin gefordert, auch der Bund und Europa tragen Verantwortung.“

Die Bundesregierung hat 2016 entschieden, dass EU-Bürger, die in Deutschland leben, fünf Jahre lang keinen Anspruch auf Sozialleistungen haben. Bauarbeitern und Erntehelfern, die zahlreich aus Osteuropa nach Berlin und Brandenburg kommen, droht nach dem Ende eines Jobs also schnell die Obdachlosigkeit - wenn sie nicht in ihre Heimat zurückgehen. Was die wenigsten wollen. „Sie schämen sich“, erzählt Joachim Lenz. „Die Männer sind hergekommen, um Geld zu verdienen, den Familien daheim zu helfen. Wenn sie scheitern, wagen sich viele nicht zurück. Die meisten haben ihre Wohnungen zu Hause sowieso aufgegeben. Und andere sagen, dass es immer noch besser ist, in Berlin obdachlos zu sein als in Warschau oder Bukarest.“

„Seit Menschengedenken wandern die Leute dahin, wo Arbeit ist und ein besseres Leben winkt“, sagt Michael Grunst. Der Lichtenberger Bürgermeister erzählt, dass er zunehmend von Leuten auf die nicht nur scheinbar wachsende Zahl der Obdachlosen angesprochen wird. „Ich nehme ja selbst wahr, dass immer mehr Menschen auf der Straße leben. Das Problem ist real, und wenn wir nicht massiv gegensteuern, droht Berlin die soziale Verwerfung.“

Was dem Bürgermeister besondere Sorge bereitet, ist die auch in Lichtenberg massiv gestiegene Zahl der Wohnungslosen. „Das ist die Vorstufe zur Obdachlosigkeit“, sagt er. Musste die Fachstelle Soziale Wohnhilfe Lichtenberg im Jahr 2014 noch 657 Personen in Wohnheimen, Übergangswohnungen oder ähnlichen Behelfs-Bleiben unterbringen, waren es 2017 schon 1572, mehr als doppelt so viele. Darunter waren 450 Kinder.

Sowohl der Lichtenberger Bürgermeister als auch die Bundestagsabgeordnete sprechen von einer verfehlten Wohnungs- und Sozialpolitik. „Wir brauchen mehr bezahlbaren Wohnraum und müssen das Thema EU-weit ansprechen und angehen“, sagt Gesine Lötzsch. „Die Prognose, dass wir in Deutschland im Jahr 2018 über eine Million wohnungslose Menschen haben, ist erschreckend.“

Der Bezirk Lichtenberg geht seit Mitte des Jahres neue Wege in der Obdachlosenhilfe. Ein Kooperationsprojekt mit der Katholischen Hochschule für Sozialwesen soll zunächst ermitteln, wie effizient aktuelle Hilfsangebote für Menschen ohne feste Bleibe sind und in einem zweiten Schritt neue Angebote entwicken, um näher an die Betroffenen heran-zukommen.

Autor:

Berit Müller aus Lichtenberg

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