Behinderte Menschen profitieren nicht genug vom Aufschwung

Fin-Janne Smidt macht beim Behinderten-Sportverband Berlin eine Ausbildung zum Sport- und Fitnesskaufmann. | Foto: Wörrle
  • Fin-Janne Smidt macht beim Behinderten-Sportverband Berlin eine Ausbildung zum Sport- und Fitnesskaufmann.
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Berlin. Der Begriff "Inklusion" beschreibt die gleichberechtigte Teilhabe behinderter Menschen an Gesellschaft, Politik, Kultur, Sport - und am Arbeitsleben. Doch da gibt es Probleme.

Fin-Janne Smidt (20) sitzt am Schreibtisch und telefoniert. Die Telefonsprechstunde macht er gern. Er mag es, die Anrufer über die Internetseite des Behinderten-Sportverbands Berlin zu lotsen und ihnen das Programm zu erklären. Vor ihm flimmern zwei große Bildschirme. Eine Kamera filmt die eng bedruckten Seiten eines Programmhefts ab und projiziert sie auf einen Monitor. Um zu lesen, geht Fin-Janne ganz dicht an die Mattscheibe heran. Da er nur noch eine Sehkraft von zwei Prozent hat, unterstützen ihn die Kamera und eine Sprachsoftware im Büroalltag. Er ist im dritten Lehrjahr zum Sport- und Fitnesskaufmann des Behinderten-Sportverbands. Neben seiner Vorliebe für die Sprechstunden gilt er hier als Fußballexperte. In seiner Freizeit spielt er Blindenfußball. Doch Fin-Janne geht auch gern wandern und läuft Ski. Erst kürzlich hat er surfen gelernt. "Ich habe immer schon viel Sport gemacht und deshalb wollte ich auch in diesem Bereich arbeiten", erzählt der Lübecker, der vor knapp vier Jahren für ein Freiwilliges Soziales Jahr nach Berlin kam. Daraus wurde eine Lehrstelle und in ein paar Monaten steht schon die Abschlussprüfung an.

Der Sport war es auch, der bei Robert Prem als "Jobvermittler" wirkte. Seit einem Unfall 1991 sitzt der heute 55-Jährige im Rollstuhl. Sein Leben als Schauspieler war damit vorbei. Er wollte in einen Bürojob wechseln, machte dafür eine Umschulung. Doch anfangs kam er nicht weiter als bis zum Bewerbungsschreiben. "Den Rollstuhl sahen die meisten als Hürde an, obwohl das im Büro vollkommen egal ist", erzählt Prem. Als er dann nach vielen Absagen doch die Chance bekam, sich persönlich vorzustellen, klappte es auf Anhieb. "Das Wichtigste war aber, dass ich über meinen Sport, das Segeln, viel Kontakt zu anderen Leuten hatte und überhaupt von den offenen Stellen erfahren habe", sagt Prem, der heute nicht nur eine feste Stelle als Bürokaufmann hat, sondern auch großen Erfolg im Sport. Bei den Paralympics vor vier Jahren holte er mit Jens Kroker und Siegmund Mainka, der ebenfalls im Rollstuhl sitzt, die Goldmedaille im Sonar-Segeln, 2012 in London wurde es Silber.

Auch Fin-Janne Smidt ist froh, dass er die Chance bekam, sein Können zu beweisen. Wie schwierig es ist, mit einer Behinderung einen Ausbildungsplatz zu finden, hat er bei seiner Freundin erneut erlebt. Auch sie ist sehbehindert und bekam immer wieder Absagen. "Dann hat sie ihre Sehschwäche in den Anschreiben einfach verschwiegen und schon wurde sie eingeladen", erzählt er und ergänzt strahlend, dass sie mittlerweile eine Lehrstelle hat.

Sein Optimismus steckt an. Auch sein Ausbilder ist davon begeistert. "Fin hat uns sofort überzeugt und so haben wir eine zusätzliche Stelle geschaffen", sagt Klaas Brose, der Geschäftsführer des Behinderten-Sportverbands Berlin. Obwohl der Verband viel Erfahrung mit behinderten Menschen hat, ist es für die Mitarbeiter das erste Mal, dass sie mit jemandem zusammenarbeiten, der sehbehindert ist. "Natürlich mussten sich alle umstellen, aber genau das hat dazu geführt, dass wir alle mehr aufeinander achten", erzählt Brose.

Die hohe Motivation und die positive Wirkung auf das Betriebsklima sind es auch, mit denen die Bundesagentur für Arbeit bei den Unternehmen dafür wirbt, mehr behinderten Menschen eine Chance zu geben. Denn obwohl der Arbeitsmarkt eine positive Entwicklung verzeichnet, profitieren vor allem Schwerbehinderte nicht im selben Maße vom Aufschwung wie andere Menschen.

Dass Arbeitgeber zögern, kann Oliver Kurz, Geschäftsführer der Agentur für Arbeit Berlin Nord, nicht verstehen. "Fakt ist, dass Schwerbehinderte gut qualifiziert sind und der Fachkräfteanteil unter ihnen höher ist als unter Arbeitssuchenden insgesamt", sagt er. Noch immer würden sich viele Arbeitgeber zu sehr auf die vermeintlichen Beeinträchtigungen konzentrieren statt auf die Fähigkeiten. "Viele denken nicht darüber nach, was Schwerbehinderung bedeutet", sagt sein Kollege Andreas Niechoj, Teamleiter bei der Arbeitsvermittlung für schwerbehinderte Menschen. So könne das auch ein Diabetiker sein, der keine Einschränkungen hat, außer dass er regelmäßig Medikamente nehmen muss.

Niechoj erlebt auch immer wieder, dass Betriebe wie selbstverständlich die Ausgleichsabgabe zahlen. Denn jeder Arbeitgeber mit mindestens 20 Beschäftigten ist verpflichtet, fünf Prozent seiner Stellen mit Schwerbehinderten zu besetzen. Kommt er dem nicht nach, muss er bis zu 290 Euro pro Monat für jede unbesetzte Pflichtstelle zahlen. "Das soll keine direkte Strafe sein, mit dem Geld können wir gezielt die Unternehmen fördern, die Stellen für Schwerbehinderte schaffen", sagt Niechoj.

Firmen könnten also doppelt profitieren - menschlich und aus unternehmerischer Sicht. Zuschüsse gibt es zwar für Arbeitsgeräte, doch oft genügen schon eine gute Idee und die Bereitschaft, sich auf Neues einzulassen. So hat Fin-Janne auch seine Methode gefunden, die Protokolle bei Vorstandssitzungen zu schreiben, "handschriftlich", erzählt er stolz. "Er braucht dafür aber eine riesige Menge Papier", sagt Klaas Brose und beide lachen. Fin schreibt einfach so groß, dass er es lesen kann.

"Politik bestimmt Abgabenhöhe"

Höhere Ausgleichszahlungen knapp befürwortet

Die knappe Mehrheit der abstimmenden Leser ist für höhere Abgaben von Arbeitgebern, die keine Schwerbehinderten einstellen. Von der positiven Entwicklung am Arbeitsmarkt profitieren schwerbehinderte Menschen nur selten, obwohl der Fachkräfteanteil unter ihnen höher ist als unter den Erwerbspersonen insgesamt. Um dieses Problem zu lösen, sollten Arbeitgebern nach Ansicht von 60 Prozent der Abstimmungsteilnehmer zur Leserfrage mehr Ausgleichszahlungen leisten, wenn sie keine Stellen für Schwerbehinderte schaffen. Grundsätzlich sind Arbeitgeber, die mehr als 20 Beschäftigte haben, dazu verpflichtet fünf Prozent ihrer Stellen mit Schwerbehinderten zu besetzen. Tun sie dies nicht, müssen sie bis zu 290 Euro pro Monat für jede Stelle bezahlen. Andreas Niechoj, Teamleiter Arbeitsvermittlung für schwerbehinderte Menschen in der Agentur für Arbeit Berlin Nord, möchte die Ausgleichszahlungen nicht als Strafabgabe sehen. "Sie ist ein wichtiger Beitrag zur Beschäftigung dieser Zielgruppe", sagt Niechoj. Damit könnten auch die Fördergelder für finanziert werden. Er weist aber auch darauf hin, dass die Arbeitsagentur selbst keinen Einfluss auf die Höhe der Abgabe habe. "Die konkrete Festlegung ist eine Entscheidung der Politik."

Schlechtere Quoten

Obwohl die Arbeitslosenzahlen Ende 2012 im Bundesgebiet wieder etwas gestiegen sind, ist der Trend positiv. In Berlin stieg die Arbeitslosenquote im Dezember im Vergleich zum Vormonat insgesamt um 1,9 Prozent, im Vergleich zum Vorjahr sank sie jedoch um 3,6 Prozent. Das kommt offenbar nicht bei Schwerbehinderten an. So waren im Dezember in Berlin 10 635 schwerbehinderte Menschen arbeitslos gemeldet. Das sind zwar 1,7 Prozent weniger als 2011, doch die Quote bei Schwerbehinderten sinkt langsamer als die Gesamtzahlen. Im Vergleich zum November 2012 stieg sie sogar um 2,8 Prozent an. Um etwas zu ändern bietet die Bundesagentur für Arbeit Firmen, die Schwerbehinderte einstellen, eine Regelförderung an, die sich nach der Schwere der Behinderung richtet. Dazu läuft bis 2016 das Programm der "Initiative Inklusion". Pro Ausbildungsplatz für einen Schwerbehinderten kann ein Unternehmen bis zu 10 000 Euro bekommen. Stellt es einen Schwerbehinderten ein, der über 50 Jahre alt ist, sind bis zu 15 000 Euro möglich.

Jana Tashina Wörrle / jtw
Autor:

Jana Tashina Wörrle aus Charlottenburg

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