Mit den Augen einer Stadtteilmutter sehen

Stadtteilmutter Remziye Bilgin vor dem Café Selig auf dem Herrfurthplatz. | Foto: Sylvia Baumeister
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Neukölln. Im Quartier Schillerpromenade lief 2004 zum ersten Mal ein Stadtteilmütter-Projekt. Inzwischen gibt es das vielfach ausgezeichnete Projekt auch in anderen Stadt- und Landesteilen. Im dritten Teil der Serie „Unser Kiez – Rund um die Schillerpromenade“ erzählt eine heutige Stadtteilmutter von sich und ihrer Arbeit.

Eingehüllt in einen roten Schal, dem Markenzeichen der Stadtteilmütter, sitzt Remziye Bilgin an einem noch etwas frischen Frühlingstag vor der Kirche auf dem Herrfurthplatz. Spätestens, wenn man ihre bunte Tasche sieht, die sie bei jedem Einsatz bei sich trägt, weiß jeder, dass die 42-jährige Türkin als Stadtteilmutter unterwegs ist. In dem Kiez, in dem sie selbst einen Großteil ihrer Kindheit verbrachte: „Ich ging in die Karl-Weise-Schule und erinnere mich heute noch an die strenge Lehrerin unserer Klasse, die nur aus Ausländerkindern bestand“, erzählt Remziye Bilgin.

Ihre Eltern, die 1969 als Gastarbeiter aus der Türkei kamen, arbeiteten auf dem Tempelhofer Flughafen für den Alliierten-Stützpunkt der Amerikaner. Als die Besatzer nach der Wiedervereinigung gingen, wurden ihre Eltern arbeitslos und gingen zurück in die Türkei. Remziye, die jüngste von drei Brüdern und einer Schwester, hatte mittlerweile eine Ausbildung als Industriemechanikerin abgeschlossen, suchte einen Job und wollte hier bleiben. Nach ihrer Weiterbildung zur Mikrobiologie-Assistentin heiratete sie zunächst ihren Mann Murat, bekam 2004 und 2006 ihre beiden Kinder.

Mit den Stadtteilmüttern kam Remziye Bilgin in Kontakt, als ihre Töchter in die Schule kamen. „Irgendwann ging ich dann einfach mal ins Rathaus und stellte mich beim Diakonischen Werk vor“, erzählt sie. Da sie die Voraussetzungen erfüllte - Mindestalter 35 Jahre, Bezieherin von ALG II und selbst Mutter - wurde sie angenommen. Nach einer mehrmonatigen Ausbildung ging es im September 2014 los. Seither besucht Remziye Bilgin tagtäglich öffentliche Einrichtungen, wie Elterntreffs, Kitas und sogar ihre frühere Grundschule, die Karl-Weise-Schule. Dort knüpft sie Kontakt zu Eltern, die noch nicht so lange hier leben und die häufig wenig Deutsch sprechen.

Bei ihren Hausbesuchen, wo sie fast nur Frauen antrifft, informiert sie über wichtige Themen des täglichen Lebens in Deutschland, wie Bildung, Schule, Zugang zu Kitas, Gesundheit, Ernährung oder Entwicklung der Kinder. Sie spricht die Sprache der Menschen und dringt so ganz anders zu ihnen durch, als es eine deutsche Sozialarbeiterin könnte. Vieles erfährt sie durch ihre Arbeit von den Problemen, die die Menschen im Schillerkiez haben, häufig dreht es sich um die Wohnungssuche aufgrund von Mietsteigerungen.

„Für viele Migranten ist es schwierig, hier Rat und Hilfe zu bekommen. Die meisten Beratungsstellen sind sehr versteckt. Ich erfülle da eine Brückenfunktion“, findet die Stadtteilmutter. Oft vermittelt sie Hilfesuchende an Beratungsstellen oder an Bildungsträger für Deutschkurse. Wo es nötig erscheint, begleitet sie die Frauen manchmal auch zu Ämtern oder zum Arzt. Manchmal wundert sich Remziye Bilgin: „Nach fast 20 Jahren, die ich hier lebte, dachte ich eigentlich, ich kenne mich in diesem Kiez aus. Aber mit den Augen einer Stadtteilmutter sehe ich die Dinge inzwischen ganz anders.“ SB

Sie wollen weitere Geschichten aus der Serie rund um die Schillerpromenade lesen? Dann klicken Sie auf Unser Kiez - Rund um die Schillerpromenade. Persönliche Kiezgeschichten aus der ganzen Hauptstadt gibt es wiederum auf Unser Kiez - Berlin.
Stadtteilmutter Remziye Bilgin vor dem Café Selig auf dem Herrfurthplatz. | Foto: Sylvia Baumeister
Die Karl-Weise-Schule hat Remziye Bilgin selbst als Grundschülerin besucht. | Foto: Sylvia Baumeister
Autor:

Sylvia Baumeister aus Neukölln

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