Nur kurze Zeit ein "Sturmlokal": 1931 zog die SA in Neuköllns größte Mietskaserne

Kaum zu glauben: Zwischen kleinen Häusern im Böhmischen Dorf stand einst eine Mietskaserne. | Foto: Schilp
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Berlin im Jahr 1931: Die erstarkenden Nationalsozialisten versuchen, auch in den „roten“ Bezirken Fuß zu fassen. Die SA gründet dort immer mehr „Sturmlokale“ – so auch an der Richardstraße 35. Doch der Widerstand ist groß.

Mitten im Böhmischen Dorf, dort wo heute der Comeniusgarten liegt, stand damals die größte Mietskaserne Neuköllns: Baujahr 1905, fünf Hinterhöfe, 144 winzige Wohnungen, 500 Bewohner, Toiletten auf dem Hof. Dort leben proletarische Familien in drangvoller Enge, hier wählt die große Mehrheit links. Im Vorderhaus hat das Lokal „Richardsburg“ seinen Sitz, Treffpunkt von kommunistischen und sozialistischen Gruppen.

Doch die Weltwirtschaftskrise ist auf ihrem Höhepunkt, nahezu jeder zweite in der Gegend arbeitslos. Die Stammkundschaft der Richardsburg hat kaum noch Geld, die Umsätze des Gastwirts Heinrich Böwe schrumpfen. Nun passiert etwas, was der Autor Bernd Kessinger („Die Nationalsozialisten in Berlin-Neukölln 1925–1933) für beispielhaft hält, weil es auch in vielen anderen Arbeitergegenden stattfindet: Die SA kauft den Kommunisten quasi ihren Treffpunkt ab, indem sie dem Wirt einen Mindestabsatz an Bier garantiert. Der willigt schließlich ein.

Dafür mag Böwe mehrere Gründe gehabt haben. Sicher steht die Angst vor dem wirtschaftlichen Ruin für ihn im Vordergrund, im Kiez verwurzelt ist er nicht. Erst drei Jahre zuvor hat der Magdeburger die Kneipe übernommen. Er handelt nach der Devise „Wes Brot ich ess, des Lied ich sing“. Kurz nach seiner Abmachung mit der SA tritt er sogar in die NSDAP ein. Denn die Braunhemden haben Wort gehalten. Das neue „Sturmlokal“ ist fast immer gut besetzt, schon zum Mittagessen kehren regelmäßig um die 30 SA-Männer ein. Von der alten Kundschaft lässt sich natürlich niemand mehr blicken.

Schnell kommt es zum offenen Konflikt zwischen dem Wirt und der Bewohnerschaft. Kessinger schreibt: „Die neuen Gäste begannen in die Hauseingänge zu urinieren, mit Pistolen herumzufuchteln und Mieter zu bedrohen.“ Die KPD organisiert Proteste, es kommt zum Mieterstreik. Auch die SPD mischt mit. Gemeinsam wird eine Hausschutzstaffel gegründet, man überwacht die Aktionen der SA und der Polizei.

Die Richardsburg avanciert indessen zur Chefsache: Der Berliner Gauleiter Joseph Goebbels ordnet persönlich an, das Lokal zu verteidigen – komme, was wolle. Von der Gegenseite folgen Demonstration, ein weiterer Mieterstreik; Scheiben gehen zu Bruch. Am 15. Oktober, keine drei Wochen nach der feierlichen Einweihung des Sturmlokals, fallen Schüsse. Vier Personen werden verletzt, Gastwirt Böwe stirbt. Die Polizei richtet einen Sicherheitsdienst ein und verhaftet 33 Personen. Damit haben die Nazis gewonnen. Aber der Sieg währt nicht lange. Ende Januar 1932 werden mehrere Berliner SA-Lokale verboten, darunter auch die Richardsburg. Weil zu dieser Zeit ein konsequentes behördliches Handeln gegen die Rechten schon selten geworden ist, geht Bernd Kessinger davon aus, dass es zuvor erhebliche Gewalttätigkeiten der SA gegeben haben muss.

Der Mietskasernen-Koloss überlebt bis 1971, dann wird er abgerissen. Es folgen Diskussionen über Nutzungen des 1,2 Hektar großen Geländes. In den 80er-Jahren beginnen dann Planungen für den Comeniusgarten, dessen Eröffnung im Sommer 1995 gefeiert wird.

Autor:

Susanne Schilp aus Neukölln

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