Mit den Stadtgütern ging es aber bergab

Sigrid Weise vor dem Vereinssitz im Kulturzentrum Brotfabrik. Sie erlebte nach dem Fall der Mauer Dinge, die sie nicht für möglich hielt. | Foto: BW
  • Sigrid Weise vor dem Vereinssitz im Kulturzentrum Brotfabrik. Sie erlebte nach dem Fall der Mauer Dinge, die sie nicht für möglich hielt.
  • Foto: BW
  • hochgeladen von Bernd Wähner

Weißensee. Am 9. November 1989 wurde die Berliner Mauer geöffnet. Seitdem entwickelte sich nicht nur Berlin rasant. In den vergangenen 25 Jahren veränderte sich auch das Leben vieler Menschen in dieser Stadt. In den kommenden Ausgaben stellen wir Ihnen einige davon vor.

"Hoffentlich sind alle Ställe besetzt! Das war mein erster Gedanke, als ich mitbekam, dass die Mauer gefallen ist", erinnert sich Sigrid Weise. Die Weißenseerin war 1989 stellvertretende Direktorin bei den Berliner Stadtgütern.

"Ich war auf dem Weg zur Arbeit und las in der S-Bahn bei meinem Sitznachbarn in der Zeitung vom Mauerfall. Wenn alle Kollegen gleich rüber sind: Was wird dann aus den Tieren. Die interessieren sich nicht für den Mauerfall. Sie müssen jederzeit versorgt werden." In den Ställen konnte Sigrid Weise aufatmen. Nur zwei Kollegen fehlten und alle Tiere waren bestens versorgt.

In der DDR kannten zwar viele die Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften. Nur wenige bekamen mit, dass es daneben noch die Stadtgüter Berlins gab. In denen fand Gemüseanbau statt. Es gab Obstplantagen und die Tierproduktion. Der Mauerfall selbst interessierte Sigrid Weise wenig. Sie hatte von früh bis spät zu tun und konnte sich kaum um andere Dinge, als um ihre Arbeit kümmern. "Erst als ich im Februar 1990 im Urlaub in Thüringen war, bin ich mit meinem Mann von dort aus mal nach Kassel gefahren. Da ist mir dann in einem Kaufhaus aufgefallen, wie teuer da Vieles war", berichtet sie. "Wieder in Ost-Berlin, habe ich mein ganzes Geld erst einmal für Dinge ausgegeben, die meine Töchter bekamen. Hier war allgemeiner Ausverkauf und alles viel billiger."

Die Auswirkungen des Mauerfalls erreichten schon bald den Arbeitsplatz von Sigrid Weise. Viele Ost-Berliner kauften Obst, Gemüse, Fleisch- und Wurstwaren aus westlicher Herstellung. Bei den Stadtgütern ging der Absatz zurück. Also versuchten die Beschäftigten, die Sachen selbst zu vermarkten. "Interessanterweise hatten wir plötzlich etliche Kunden aus West-Berlin. Die schätzten die Frische und den Geschmack der regionalen Produkte."

Für die Berliner Politik waren die volkseigenen Stadtgütern Fremdkörper. Die Filetstücke wurden verkauft, nachdem die Mitarbeiter entlassen waren. "Denen bot man wirklich das letzte an. Meine Kollegen, hochqualifizierte Leute, sollten auf Straßen im Westteil der Stadt den Dreck wegmachen. Wer sich beschwerte, dem wurde gesagt, er soll froh sein, dass er überhaupt was zu arbeiten bekommt. Wie mit den Leuten, die ihr Leben lang arbeiteten, umgegangen wurde: Darauf bin ich richtig sauer!"

Die Diplom-Landwirtin Weise wurde Anfang der 90er Jahre in den Vorruhestand geschickt. Doch sie fand eine neue Herausforderung: Sie war Mitbegründerin des Vereins der Weißenseer Heimatfreunde und zwischen 1993 und 2007 dessen Vorsitzende. Der Ursprung des Vereins lag im stadtgeschichtlichen Kabinett Weißensee. Weise forschte zu Weißenseer Heimatgeschichte, vor allem zu den Stadtgütern.

"Ich bin aktuell dabei, eine Datensammlung für jedes einzelne Gut zusammenzustellen. Ich bin es mein Leben lang gewohnt, zu arbeiten. Damit will ich auch mit meinen 78 Jahren nicht aufhören." Seit Anfang des Jahres amtiert Sigrid Weise übrigens wieder als Vorsitzende der Weißenseer Heimatfreunde. Ihr einstiger Nachfolger wanderte nach Kroatien aus.

Bernd Wähner / BW
Autor:

Bernd Wähner aus Pankow

following

Sie möchten diesem Profil folgen?

Verpassen Sie nicht die neuesten Inhalte von diesem Profil: Melden Sie sich an, um neuen Inhalten von Profilen und Orten in Ihrem persönlichen Feed zu folgen.

84 folgen diesem Profil

Kommentare

online discussion

Sie möchten kommentieren?

Sie möchten zur Diskussion beitragen? Melden Sie sich an, um Kommentare zu verfassen.

Beitragsempfehlungen

Gesundheit und MedizinAnzeige
Hüft- und Knieschmerzen müssen nicht sein.  | Foto: AdobeStock_197992483

Infoabend für Patienten
Schluss mit Hüft- und Knieschmerzen!

Leiden Sie unter Hüftschmerzen, die Ihr Leben dauerhaft beeinträchtigen? Oder schmerzt das Knie bei jedem Schritt? Dann lassen Sie sich nicht länger quälen! Wir laden Sie herzlich zu unserem Infoabend ein, bei dem Sie die neuesten Wege zur Befreiung von Hüft- und Knieschmerzen entdecken können, ohne sich vor dem Eingriff fürchten zu müssen. Unser renommierter Chefarzt für Orthopädie und Unfallchirurgie sowie Leiter des Caritas Hüftzentrums, Tariq Qodceiah, wird Sie durch die modernsten Methoden...

  • Westend
  • 26.03.24
  • 220× gelesen
Jobs und KarriereAnzeige
Foto: VEAN TATTOO
4 Bilder

Tattoo-Kurse
Ausbildung für Topberuf des letzten Jahrzehnts

Eine Frage, die immer aktuell ist, auch wenn man schon vor langer Zeit erwachsen ist. Sehr oft entscheiden wir uns aufgrund des sozialen Drucks für einen Beruf. Wie oft haben Sie sich gefragt, was aus Ihnen geworden wäre, wenn Sie auf sich selbst gehört hätten? VEAN TATTOO hat diese wichtige Frage vor zwölf Jahren ehrlich für sich selbst beantwortet und reicht daher ohne Zweifel allen, die über ihren ersten oder neuen Beruf nachdenken, eine helfende Hand. Es liegt an Ihnen, zu entscheiden,...

  • Mitte
  • 25.03.24
  • 406× gelesen
Gesundheit und MedizinAnzeige
Seinen Füßen sollte man sehr viel Aufmerksamket schenken.

Infos für Patienten
Thema: „Rund um den ganzen Fuß"

Haben Sie Ihren Füßen jemals gebührende Aufmerksamkeit geschenkt? Oft vernachlässigen wir sie, solange sie funktionieren und schmerzfrei sind. Doch wenn Probleme auftreten, wird uns die Bedeutung dieses komplexen Körperteils schlagartig bewusst. Unsere zertifizierten Fußchirurgen geben Ihnen einen tiefen Einblick in die Anatomie des Fußes und beschäftigen sich gezielt mit Problemen wie Fehlstellungen und Verletzungen mit innovativen Lösungsansätzen für diese häufig auftretenden Probleme....

  • Pankow
  • 06.03.24
  • 1.374× gelesen
Gesundheit und MedizinAnzeige
Mit zunehmendem Alter stellen sich oft auch Fragen zur Sicherheit von Narkosen. Wir beantworten Ihre Fragen gern. | Foto: Volkmar Otto

Sicherheit während der OP
Wie sicher sind Narkosen im Alter?

Im Laufe unseres Lebens steigt die Wahrscheinlichkeit, dass wir eine Operation benötigen. Doch mit zunehmendem Alter stellen sich oft auch Fragen zur Sicherheit von Narkosen. Zum Beispiel können Herz-Kreislauf-Erkrankungen, schwere Lungenkrankheiten oder Demenz die Narkoseverträglichkeit beeinflussen. Wir laden Sie herzlich ein, Ihre Fragen und Bedenken mit uns zu teilen. Unser Ziel ist es, Ihnen die Angst vor der Narkose zu nehmen und Ihnen ein Verständnis dafür zu vermitteln, wie wir Ihre...

  • Reinickendorf
  • 13.03.24
  • 1.200× gelesen
add_content

Sie möchten selbst beitragen?

Melden Sie sich jetzt kostenlos an, um selbst mit eigenen Inhalten beizutragen.