Hunderte Menschen in den Westen geholt
Burkhart Veigel hat als Fluchthelfer neun Jahre lang sein Leben riskiert

Dr. Burkhart Veigel kehrte für Forschungen 2007 nach Berlin zurück. Das Foto unten links in seinem Buch zeigt ihn 2011, als in der Heidelberger Straße ein Tunneleinstieg wiederentdeckt wurde. | Foto:  Philipp Hartmann
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  • Dr. Burkhart Veigel kehrte für Forschungen 2007 nach Berlin zurück. Das Foto unten links in seinem Buch zeigt ihn 2011, als in der Heidelberger Straße ein Tunneleinstieg wiederentdeckt wurde.
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Wer heute die Heidelberger Straße an der Grenze von Alt-Treptow zu Neukölln entlangläuft, ahnt nicht, welch dramatische Ereignisse sich vor 60 Jahren abgespielt haben. Damals verlief genau hier die Grenze, wurden Fluchttunnel zwischen Wohnhäusern in West-Berlin hinüber auf die DDR-Seite gegraben und viele Menschen herübergeholt.

Geblieben sind lediglich Kopfsteinpflaster und Bronzeplatten, die den Mauerverlauf darstellen, sowie zwei Gedenktafeln, die an die Fluchttunnel erinnern. Eine davon informiert über Heinz Jercha, der durch einen selbstgegrabenen Tunnel von der Westseite zum Haus Heidelberger Straße 75 vom 22. bis 27. März 1962 etwa 50 Menschen die Flucht aus Ost-Berlin ermöglichte. Am Abend des 27. März geriet er jedoch in einen Hinterhalt der DDR-Staatssicherheit und verblutete, nachdem ihn mehrere Schüsse aus einer Pistole trafen. Ein Spitzel hatte den Tunnel verraten.

Burkhart Veigel war an jenem Abend mit Heinz Jercha verabredet. Jercha und sein Mitstreiter Harry Seidel wollten aufhören und ihre Fluchtroute an einen Nachfolger übergeben. „Ich sollte den Tunnel übernehmen, aber es kam nicht mehr zum Treffen“, erinnert sich der heute 83-Jährige. Die dramatischen Ereignisse hielten ihn aber nicht davon ab, weitere Fluchten zu organisieren. Von 1961 bis 1970 war Veigel einer der aktivsten und erfolgreichsten Fluchthelfer in Berlin. Zusammen mit Freunden habe er insgesamt etwa 650 DDR-Bürger in den Westen geholt, vor allem mit gefälschten Pässen, umgebauten Autos und durch Mithilfe eines französischen Alliierten-Soldaten, der mit geliehenen Wagen zum Schleuser wurde. Zweimal habe die Stasi versucht, ihn zu entführen: einmal in Berlin, einmal in Wien. Beide Male konnte er ohne Schaden entkommen. Angst hatte er nicht. „Ich habe mich unheimlich fit gefühlt, körperlich wie geistig. Die Gefahr war für mich uninteressant. Ich war noch jung“, erzählt Burkhart Veigel. Direkt an der Grenze, wo scharf geschossen wurde, war er nie aktiv. Stattdessen habe er mit allen möglichen Tricks gearbeitet, um die Stasi zu narren. Jahrelang war er extrem vorsichtig. „Ich bin immer auf der Straßenseite gelaufen, von der aus ich sehen konnte, welche Autos mir entgegenkommen.“ Erst auf Bitten seiner Frau nach der Geburt ihres ersten Kindes habe er sein Leben nicht mehr riskiert. Die Familie zog 1970 nach Hannover. Zwei Freunde setzten seine Arbeit aber noch zwei Jahre lang fort.

Diese Aufnahme des ehemaligen Berliner-Woche-Reporters Ralf Drescher zeigt Burkhart Veigel 2011, als in der Heidelberger Straße der Einstieg zu einem der früheren Fluchttunnel wiederentdeckt wurde. | Foto: Philipp Hartmann
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In der Heidelberger Straße war Burkhart Veigel nur einen Tag als Tunnelgräber aktiv. Seine Fähigkeiten lagen woanders, zum Beispiel beim Fälschen von Dokumenten. Oder beim Umbau von Fahrzeugen wie einem Transporter und einem Cadillac. Letzteren ließ Veigel 1964 mithilfe eines Automechanikers im Ruhrgebiet so umfunktionieren, dass ein Mensch im Armaturenbrett versteckt werden konnte. Auf diese Weise konnten 200 Menschen unbemerkt über die Grenze geschafft werden. Wahrscheinlich aufgrund der Nähe zum Motorraum hätten selbst Hunde bei Grenzkontrollen nichts gewittert. Darauf ist er heute noch stolz. Außerdem habe er selbst viele Fluchthelfer angeworben, unter anderem Mediziner und Ingenieure von der TU Berlin.

„Dass man ein Volk einmauert und abschließt, fand ich unmöglich“, antwortet Burkhart Veigel auf die Frage, warum er damals regelmäßig sein Leben aufs Spiel setzte. Aufgewachsen in Schwaben, hatte er keinerlei persönliche Bindungen an die DDR. Im Mai 1961, im Alter von 23 Jahren, kam er für sein Medizinstudium nach West-Berlin. Zu jener Zeit wohnte er im Studentendorf in Schlachtensee. Nur drei Monate später begann der Mauerbau. „Von einem Freund wurde ich angesprochen, ob ich mithelfe, Leute rüberzuholen.“ Noch am selben Tag hatte er seinen ersten Flüchtling über die Grenze geschafft. Das war am 30. Oktober.

Nachdem Burkhart Veigel Berlin verlassen hatte, lebte er in Hannover, Tübingen und Stuttgart, wo er 30 Jahre lang als Orthopäde eine Praxis hatte. Erst 2007, nach dem Ende seines Berufslebens, kehrte er nach Berlin zurück, um über Fluchthilfe, Stasi und Spitzel zu forschen. Daraus entstand sein Buch „Wege durch die Mauer – Fluchthilfe und Stasi zwischen Ost und West“. 2012 wurde Burkhart Veigel das Bundesverdienstkreuz verliehen. Von seiner Wohnung in Mitte aus kann er auf den früheren Mauerverlauf an der Bernauer Straße blicken.

Dazu, dass die zuständige Hausverwaltung den letzten noch erhaltenen Tunneleinstieg in der Heidelberger Straße vor zwei Jahren wegen Angst vor einer Rattenplage zubetonieren ließ, findet er klare Worte: „Diese Geschichtsvergessenheit ärgert mich total. Ich finde das entsetzlich!“

Mehr über Burkhart Veigel gibt es auf www.fluchthilfe.de zu erfahren.

Dr. Burkhart Veigel kehrte für Forschungen 2007 nach Berlin zurück. Das Foto unten links in seinem Buch zeigt ihn 2011, als in der Heidelberger Straße ein Tunneleinstieg wiederentdeckt wurde. | Foto:  Philipp Hartmann
Diese Aufnahme des ehemaligen Berliner-Woche-Reporters Ralf Drescher zeigt Burkhart Veigel 2011, als in der Heidelberger Straße der Einstieg zu einem der früheren Fluchttunnel wiederentdeckt wurde. | Foto: Philipp Hartmann
Autor:

Philipp Hartmann aus Köpenick

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