Buch zur Jubiläumsausstellung
Was es bedeutet, wenn die Mitte fehlt?
Noch bis zum 18. Oktober ist im Bezirksmuseum, Alt-Hermsdorf 35, die Ausstellung „Mitten in Reinickendorf“, anlässlich des Jubiläums „100 Jahre Groß-Berlin“, zu sehen.
Ergänzend dazu gibt es jetzt ein Buch. Es enthält neben Texten und Fotos aus der Schau Aufsätze unterschiedlicher Autoren oder Interviews mit Bewohnerinnen und Bewohnern. „Mitten in Reinickendorf“ heißt auch dieses knapp 250 Seiten starke Werk. Und es arbeitet akribisch heraus, was damit gemeint ist. Der Bezirk hat bis heute keine wirkliche „Mitte“. Selbst sein Rathaus liege immer noch „ab vom Schuss“, wie Kunstamtsleiterin Cornelia Gerner konstatiert. Demgegenüber stehen viele, ganz unterschiedliche „Mitten“. Etwa von der Residenzstraße über Alt-Tegel bis zur Heinsestraße. Jedes steht allerdings zunächst für seinen Kiez. Da gibt es oft ein mit dem einkaufen verbundenes Zentrum, dann existieren Grünanlagen, Kultureinrichtungen und Begegnungsstätten. Dabei gibt es gelungene und weniger gelungene Beispiele.
Frohnau ist ein "Musterbeispiel
gelungenen Städtebaus"
Die schaute sich beispielsweise Sozialwissenschaftler und Stadtplaner Prof. Harald Bodenschatz an. Das Märkische Zentrum etwa kann ihn trotz aller Verschönerungsversuche nicht wirklich aus der Reserve locken. Den Ludolfinger- und Zeltingerplatz in Frohnau wertet er dagegen als „Musterbeispiel gelungenen Städtebaus“.
Beide Exempel stehen für unterschiedliche Epochen. Das Märkische Zentrum, wie etwa der Kurt-Schumacher-Platz für die sogenannte Nachkriegsmoderne, die Anlagen in der Gartenstadt Frohnau dagegen datieren aus den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts.
Reinickendorf ist der Bezirk
mit den größten Unterschieden
Hier schließt sich wiederum der Kreis zum Anlass des Buchs und der Ausstellung – dem 100. Geburtstag Groß-Berlins in diesem Jahr. Der damalige Meilenstein bietet eine wichtige Erklärung für die bis heute bestehenden vielen „Mitten“ im Fuchsbezirk.
Was 1920 als 20. Verwaltungsbezirk der entstehenden Metropole zusammen gefasst wurde, war ein, nicht zuletzt von seiner Bevölkerungsstruktur, ziemlich heterogenes Gebilde. Woran sich bis heute wenig verändert hat. Reinickendorf sei wohl noch immer der „disparateste Bezirk“ in Berlin, heißt es an einer Stelle. Den Namen bekam dieses Konstrukt vor allem deshalb, weil der gleichnamige Ortsteil in diesem Zusammenschluss mehrerer Kommunen die meisten Einwohner hatte.
Borsig überstrahlt Industrie im Fuchsbezirk
Reinickendorf war damals Wohngegend für viele Arbeiter, die aus dem eng gewordenen Alt-Berlin verdrängt wurden. Zudem gab es hier Beschäftigung in vielen Industriebetrieben, die sich ebenfalls wegen noch vorhandener Freiflächen, abseits der Stadtgrenze angesiedelt hatten. Begünstigt wurde dies durch die bereits seit 1877 und 1891 bestehenden Bahnverbindungen, die heutigen S-Bahnstrecken. Ähnliches, aber weniger ausgeprägt, galt für Wittenau. Oder für Tegel, wo seit Ende des 19. Jahrhunderts der bekannteste Name Reinickendorfer Unternehmensgeschichte ansässig war – die Firma Borsig. Wegen seiner Wasserlage war Tegel gleichzeitig als Naherholungsgebiet beliebt. An manchen Stellen ebenso als Wohnort für die Mittel-, manchmal Oberschicht.
Deutlich präsenter war die Oberschicht dagegen in Heiligensee, Konradshöhe, Hermsdorf. Oder eben in Frohnau, das in den 1920er Jahren, begünstigt durch seinen Poloplatz eine Zeitlang zu einem Treffpunkt der Haute-Volée wurde. Waidmannslust hatte wiederum schon zuvor einige Zeit von einer Karriere als Kurort geträumt. Aber dann gingen die Quellen des erhofften heilenden Wassers ziemlich schnell zur Neige. Dazu Lübars, dessen dörflicher Charakter auch 100 Jahre später noch nachzuvollziehen ist.
Frohnau wollte nicht zu Groß-Berlin gehören
Als die Eingemeindung nach Berlin anstand, reagierten die Gebiete deshalb auch ganz unterschiedlich. In Reinickendorf, Tegel, wohl auch in Wittenau, wurde sie begrüßt. Weiter nördlich dagegen eher abwartend bewertet oder gar abgelehnt. Frohnau, zunächst als neuer Teil der Stadt gar nicht vorgesehen, wegen erwartet hoher Steuereinnahmen dann doch mit einverleibt, leistete nach 1920 neben anderen Widerstandsgebieten wie Spandau noch eine längere Gegenwehr in der sogenannten „Los von Berlin“-Bewegung. Wahrscheinlich machten auch dort die letzten erst nach 1945 ihren Frieden damit, als der gesamte Bezirk Reinickendorf französische Zone und damit Teil West-Berlins wurde.
Es ist interessant, wie sich einst vorhandene Strukturen auch über eine sehr lange Zeit nicht wirklich aufbrechen lassen. Aber was folgt darauf? Dass Reinickendorf mit seinen vielen Mitten darin Berlin eigentlich ganz ähnlich sei, ist eine Einschätzung der Buchautoren. Die Stadt habe ja auch keinen unbestrittenen Punkt, auf den alles zulaufe. Vielmehr, nicht zuletzt historisch bedingt, unterschiedliche, manchmal wechselnde, Zentren. Vom Alexanderplatz über die Friedrichstraße, den Potsdamer Platz bis zum Kurfürstendamm. Dazu einige über den Bezirk hinaus strahlende Anknüpfungspunke wie die Steglitzer Schlossstraße. Deshalb sei dieser Bezug eigentlich kein Nachteil. Entscheidend sei vielmehr die Qualität der Zentren. Da gebe es gerade in Reinickendorf noch Verbesserungsbedarf.
In der Corona-Pandemie
waren viele Zentren hilfreich
Den Vorteil solcher lokale Mitten machte Kulturstadträtin Katrin Schultze-Berndt (CDU) gerade in den vergangenen Corona-Monaten aus. Durch die Pandemie habe plötzlich alles still gestanden, die unmittelbare Nähe sei deshalb ins Zentrum der Wahrnehmung gerückt. „Dorthin ging man zu Fuß, um die Einkäufe zu erledigen. Die nahe gelegene Grünanlage erlaubte einen kurzen Spaziergang.“ Die Mitte war nicht allzu weit.
Das Buch „Mitten in Reinickendorf“ ist im Bezirksmuseum, Alt-Hermsdorf 35 sowie im Buchhandel erhältlich. Preis: zwölf Euro. Die Ausstellung ist montags bis freitags und sonntags jeweils von 9 bis 17 Uhr bei freiem Eintritt zu sehen.
Autor:Thomas Frey aus Friedrichshain |
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