Immer mutig für die Schwachen
Die Frau, die als Erste im Reichstag sprach

Der Juchaczweg ist von Klnikumsbauten, einer Kita und einer kanppen Handvoll Wohnhäusern gesäumt. | Foto: Schilp
  • Der Juchaczweg ist von Klnikumsbauten, einer Kita und einer kanppen Handvoll Wohnhäusern gesäumt.
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„Begründerin der Arbeiterwohlfahrt“ steht auf der kleinen Erklärtafel eines der Straßenschilder. Doch die Namensgeberin des Juchaczwegs, der von der Fritz-Erler-Allee zum Klinikum Neukölln führt, hat auch in anderer Hinsicht Geschichte geschrieben. Marie Juchacz ist die erste Frau, die jemals vor einem demokratisch gewählten deutschen Parlament gesprochen hat.

„Meine Herren – und Damen“, beginnt sie am 19. Februar 1919 ihre knapp viereinhalbminütige Rede vor dem Reichstag und erntet prompt „Heiterkeit“, wie das Protokoll vermerkt. Noch halten es etliche Konservative für einen schlechten Witz, dass auch Frauen unter den Volksvertretern der Weimarer Republik sind.

Juchacz lässt sich davon nicht beirren und fährt fort. „Was diese Regierung getan hat, das war eine Selbstverständlichkeit: sie hat den Frauen gegeben, was ihnen bis dahin zu Unrecht vorenthalten worden ist. Und ich betrachte es als eine Selbstverständlichkeit, dass die Frau als gleichberechtigte und freie Staatsbürgerin neben dem Manne stehen wird."

Vom Dienstmädchen zur Politikerin

Marie ist zu diesem Zeitpunkt 39 Jahre alt, eine selbstbewusste und gute Rednerin. Das hat sie sich hart erarbeitet. Sie stammt aus kleinen Verhältnissen: Geboren 1879 in Landsberg an der Warthe, der Vater Schreiner, die Mutter Arbeiterin in einer Müllerei. Sie geht zur Volksschule, verdingt sich schon als Vierzehnjährige als Dienstmädchen, später als Fabrikarbeiterin und als Wärterin in der Provinz-Landes-Irrenanstalt. Sie spart etwas Geld und absolviert einen Schneiderei- und Weißnähkurs. Dann nimmt sie eine Stelle in der Werkstatt des Schneidermeisters Bernhard Juchacz an, ihres späteren Ehemanns.

Die Beziehung ist nicht glücklich, und Marie ist mutig. So lässt sich von ihrem Mann scheiden – damals unerhört – und zieht 1906 mit ihren beiden Kindern, der zweijährigen Lotte und dem Säugling Paul, in die große Stadt. Wenig später kommt ihre neun Jahre jüngere Schwester Elisabeth nach. 1908, sobald es Frauen erlaubt ist, treten die beiden in die SPD ein. Schon kurze Zeit darauf wird Marie als erstes weibliches Mitglied in den Vorstand der Rixdorfer Sozialdemokraten gewählt.

Unkonventionelle Schwestern

Auch Elisabeths in Berlin geschlossene Ehe, aus der ein Kind hervorgeht, zerbricht schnell. Die Schwestern ziehen zusammen und bilden nicht nur eine Wohn-, sondern auch eine Arbeitsgemeinschaft. Die Politikwissenschaftlerin Claudia von Gélieu schreibt in ihrem Buch „Wegweisende Neuköllnerinnen“: „Marie Juchacz war bald, nachdem sie sich in Rixdorf bewährt hatte, mit Parteiaufgaben außerhalb betraut worden. Sie war in ganz Deutschland unterwegs und trat als Rednerin für die SPD auf öffentlichen Versammlungen auf. Dabei wechselte sie sich mit ihrer Schwester ab. Eine musste immer in Rixdorf zurückbleiben und sich um die Kinder kümmern. Ihre Vorträge arbeiteten sie gemeinsam aus und tauschten sie aus.“

Nach dem Ersten Weltkrieg, am 19. Januar 1919, dürfen die deutschen Frauen dann zum ersten Mal wählen und sich zur Wahl stellen. Viele erwarten, dass sie ihr Kreuz mehrheitlich bei der SPD machen, so auch Marie Juchacz. Doch sie wird enttäuscht: Ihre Geschlechtsgenossinnen stimmen überwiegend für die Konservativen. Dennoch: Die Sozialdemokraten sind stärkste Partei, Marie Juchacz und auch ihre Schwester Elisabeth Röhl ziehen in die Nationalversammlung ein. 37 der 423 Abgeordneten sind weiblich.

Gründerin der AWO

Noch im Jahr ihres Wahlerfolges, im Dezember 1919, gründet Marie Juchacz die Arbeiterwohlfahrt (AWO). Ziel ist es, die vielen tausend Kriegsversehrten, Witwen, Waisen und Arbeitslosen zu unterstützen – nicht mit Almosen, sondern mit helfender Solidarität. Es entstehen Schulungseinrichtungen für Sozialarbeiter, Kindergärten und Erholungsheime.

Als die Nationalsozialisten die Macht ergreifen, flieht Marie Juchacz über Frankreich in die Vereinigten Staaten. Nicht ohne den Braunhemden zuvor 1932, während der Debatte über die Reichspräsidentenwahl, ihre „Kurzsichtigkeit, Eitelkeit und Renommiersucht“ vorzuhalten. Keine andere Frau im Parlament findet so klare Worte.

1949 kommt Marie Juchacz nach Deutschland zurück und wird Ehrenvorsitzende der AWO. Sie stirbt sieben Jahre später in Düsseldorf.

Autor:

Susanne Schilp aus Neukölln

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