Bezirkswahlen 2021 in Charlottenburg-Wilmersdorf
Anmerkungen zum grünen Wahlprogramm
Mit Ergänzung (20.8.2021): Fraktionsmitglied: Keine Stellungnahme der Grünen (siehe unten)!
Um der besseren Lesbarkeit willen beschränken sich die folgenden Anmerkungen auf vier Punkte aus dem 84seitigen Programm.
1. Bürgerbeteiligung
„Bürger*innenbeteiligung“ ist nur auf 2 von 84 Seiten* kurz benannt: im Zusammenhang mit Wohnen und Bauen, als Teil von bürokratisch anmutenden „integrierten Entwicklungskonzepten“ (12), und bei der Ausgestaltung des Schoelerschlößchens (66). Das ist alles?
Immerhin verpflichtet seit zehn Jahren das Bezirksverwaltungsgesetz die Bezirke, für die „Mitwirkung der Einwohnerschaft“ – also für Bürgerbeteiligung! – zu sorgen (§ 40). Aber nichts dergleichen ist geschehen, obwohl die Grünen zusammen mit ihrem Partner SPD die politische Führung im Bezirk innehaben. Da wäre also einiges anzukündigen gewesen, wie schon mal vor fünf Jahren** – bei Gelegenheit der letzten Wahl –, als man in der Zählgemeinschafts-Vereinbarung versicherte: „Die Kultur der Bürgerbeteiligung wollen wir weiter entwickeln und stärken. … Als erster Schritt soll eine ‚Vorhabenliste‘ aufgebaut werden.“ (S. 2, 8; Hervorh. im Orig.) Es gab nie diesen „ersten Schritt“. Daß es anders geht, zeigt die Vorhabenliste des Bezirks Mitte.
Dies deutet auf ein zwiespältiges Verhältnis der Grünen zur Bürgerbeteiligung hin und ist vielleicht der Grund, warum diese in ihrem Wahlprogramm keine Rolle spielt. Allerdings auch nicht in ihrer praktischen Politik in BVV und Bezirksamt; dazu drei jüngste Beispiele:
– Umbau des Preußenparks
– seit letztem Jahr Verweigerung schriftlicher Antworten auf Einwohnerfragen – obwohl allein in Schriftform die Antworten verbindlich und transparent sind und nur so dem demokratischen Prinzip der Bürgerbeteiligung dienen können
– der Umgang mit dem Schoelerschlößchen; siehe dazu den folgenden Punkt!
2. Schoelerschlößchen
Im Wahlprogramm heißt es (66): „So befindet sich das Schoeler-Schlösschen jetzt in der Planungs- und Bauphase zu einem Kulturort für alle. Durch Bürger*innen-Foren, während der Bauzeit, sollte schon jetzt eine Bürger*innenbeteiligung ermöglicht werden.“ (Hervorh. d. Verf.)
Tatsächlich jedoch gab es bereits vor sechs Jahren, mit der Gründung der BI Schoeler-Schlösschen im Juni 2015, den regen Wunsch von Bürgern, sich an der sinnvollen Nutzung des damals schon 12 Jahre leerstehenden Gebäudes gestaltend zu beteiligen. Ziel der BI war die Schaffung eines selbstverwalteten Kulturzentrums für alle Generationen und sozialen Schichten – woran es im Zentrum von Wilmersdorf schon lange fehlt – mit eigener Trägerschaft, Leitung und unabhängiger Programmgestaltung. Über 4000 Anwohner und weitere Bürger hatten bis Mitte 2019 dieses Vorhaben mit ihrer Unterschrift unterstützt. Die BI entwickelte detaillierte Pläne für Ausbau des Hauses und Betrieb, verschiedene Gespräche mit BVV-Parteien und -Gremien fanden statt.
Aber es half nichts: Die Bürger scheiterten am Widerstand der Parteien, darunter die Grünen. Diese hatten in ihr damaliges Wahlprogramm (2016)*** geschrieben: „Auch Trägermodelle in Selbstverwaltung für die Nutzung von Gebäuden in öffentlichen Eigentum sollten vermehrt erprobt werden” – ganz im Sinne einer zentrale Gründungsforderung grüner Kulturpolitik. Tatsächlich jedoch lehnte die grüne Fraktion in der BVV die Bürger-Selbstverwaltung vehement ab.
Es blieb der BI Schoeler-Schlösschen nichts anderes, als ihren Versuch der Bürgerbeteiligung aufzugeben und sich im Juni 2019 aufzulösen.
3. Bibliotheken
Bibliotheken sind für die Bürger die mit Abstand wichtigste kulturelle Einrichtung im Bezirk. Ihre Nutzer schätzen sie in allererster Linie wegen ihres Medienangebots.
Beides schlägt sich bei den drei kurzen Erwähnungen im Wahlprogramm (44, 65, 67) nicht nieder. Stattdessen erscheinen sie als Veranstaltungsorte und als Orte zur politischen Bildung nach Vorstellung der Grünen (44). Dieser Versuch der Funktionalisierung ist entschieden abzulehnen. Bibliotheken sind keine politischen Erziehungsanstalten, sondern frei und Orte zur Entwicklung der Selbsttätigkeit ihrer Nutzer.
Der Hintergrund der seit Jahren von Politikern betriebenen Umgestaltung der Bibliotheken wird nicht thematisiert, nämlich der Mangel an soziokulturellen Einrichtungen, wo man sich kostenfrei treffen kann. Diese verfehlte Gesellschaftspolitik gibt es auch in unserem Bezirk und ist von den Grünen mit zu verantworten, siehe Beispiel des Schoelerschlößchens.
Besonders bedauerlich ist, daß das Wahlprogramm den Bibliotheksentwicklungsplan des Bezirks völlig ignoriert, obwohl er vieles enthält, das höchst strittig ist (siehe die Kritik hier), wie z.B.:
– Beschränkung der Stadtbibliotheken auf „Gebrauchs- und Verbrauchsbibliotheken“, was heißt, Medien allein aufgrund ihres Erscheinungsjahrs zu makulieren, ohne Rücksicht auf ihren Inhalt
– schematische Bestandsbetreuung mit vorwiegendem Einkauf von Unterhaltung und Ratgebern
– Beibehaltung der sog. Kosten-Leistungs-Rechnung, die den Konkurrenzkampf zwischen den Bezirken um Senatsgeldzuweisungen schürt
– Ausschluß der Nutzer bei Bestandsaufbau und öffentlichen Aktivitäten der Bibliotheken
– beschränkte Öffnungszeiten statt Stadtbibliothek als „meine persönliche Bibliothek“, d.h.: 1. jederzeit über die eigene Bibliothekskarte zugänglich und 2. der gesamte VÖBB-Bestand ohne Transportgebühren nutzbar.
4. Fußgänger und Radfahrer
Schon auf den ersten Blick ist erkennbar, daß trotz der Tatsache, daß 100 % der Einwohner des Bezirks Fußgänger sind, deren Belange denen der Radfahrer nachgeordnet behandelt werden (siehe z.B. S. 5, 30, Überschriften 32 und 35). Begriffe mit dem Wortteil „Rad“ kommen mehr als doppelt so oft vor wie solche mit „Fuß“. Forderungen für den Radverkehr dominieren deutlich, für Fußgänger werden nur vier aufgestellt (35); die ersten drei sind: längere Grünphasen an Ampeln, mehr und besser einsehbare Straßenüberquerungen und mehr Platz durch Reduzierung von Pkw-Parkflächen auf Gehwegen.
Allerdings fehlen hier eine Vielzahl weiterer Hindernisse auf Gehwegen, neben Leihrädern, Stromzapfsäulen für E-Autos, Fahrradständern, Parkscheinautomaten: Tische und Stühle vor Restaurants, Cafés u.ä., Verkaufsauslagen aller Art und jeglichen Umfangs, Werbetafeln und -Fahnen („Beachflags“) usw. – Hindernisse, denen die Grünen nahestehen. Ganz besonders fehlt im Wahlprogramm aber das größte Hindernis für eine unbeschwerte Nutzung der Gehwege durch Fußgänger jeden Alters: Radfahrer*innen. Sie vor allem gefährden deren Sicherheit und Sicherheitsgefühl. Dennoch verspricht das Wahlprogramm als viertes: „Die Sicherheit der Fußgänger*innen wollen wir stärken.“ (35; Hervorh. im Orig.) Aber wie? Wenn sogar mit dem Foto eines Radfahrers auf einem Gehweg (17) für die Wahl der Grünen geworben wird? Daher sei der Bezirksverband erinnert an das Versprechen seiner grünen Verkehrssenatorin Günther in ihrer Pressemitteilung vom 7.8.2019: „Gehwege sollen besonders geschützte Räume für Fußgängerinnen und Fußgänger bleiben. Dafür werden wir sorgen.“ Wie wollen die Grünen im Bezirk das umsetzen?
Die grüne Bezirksleitung wurde bei Veröffentlichung dieser Anmerkungen um eine Stellungnahme im Kommentar gebeten.
Ergänzung: Ein langjähriges Fraktionsmitglied der Grünen erklärte am 20.8.2021, die Berliner Woche sei nicht das Medium, in dem man sich äußern werde.
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* Die dritte Erwähnung auf S. 71 bedeutet nur, daß Bürger zur Teilnahme an bestimmten Aktivitäten aufgefordert werden.
** 2016 hieß es im Wahlprogramm-Entwurf: „Frühzeitig informieren: Mitgestalten heißt für uns Grüne, dass informiert wird, bevor der Planungsprozess startet.“ (22; Hervorh. im Orig.); ebenso 4, 20; ebenfalls „Vorhabenliste“.
*** Quellennachweis nicht möglich, da es anstelle der Endfassung jetzt heißt: „403 Forbidden“.
Autor:Michael Roeder aus Wilmersdorf |
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