"Ich habe ein hohes Maß an Solidarität erlebt
Interview mit Jobcenterleiterin Marina Kermer

Marina Kermer übernahm kurz vor der Corona-Krise die Leitung des Jobcenters Charlottenburg-Wilmersdorf. | Foto: privat
  • Marina Kermer übernahm kurz vor der Corona-Krise die Leitung des Jobcenters Charlottenburg-Wilmersdorf.
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Die Corona-Pandemie haben auch die Mitarbeiter des Jobcenters Charlottenburg-Wilmersdorf zu spüren bekommen. Krisenmanagement, hohe Arbeitsbelastung, verunsicherte Klienten. Wie die Lage derzeit ist, darüber sprach Geschäftsführerin Marina Kermer (60) mit Berliner-Woche-Reporterin Ulrike Kiefert.

Sie haben das Jobcenter Ende 2019 übernommen, wenige Monate vor der Pandemie. Was hat sich mit Corona-Krise geändert?

Marina Kermer: Ich hatte wenigstens noch die Zeit, mich einzuarbeiten und bei meinen Mitarbeitern vorzustellen. Ein Glück, ich würde sie heute mit den Masken gar nicht erkennen. Und sie mich wahrscheinlich auch nicht. Aber im Ernst. Ich bin seit dem 1. November 2019 die neue Geschäftsführerin des Jobcenters. Fünf Monate später war die Pandemie da, und wir mussten quasi von heute auf morgen ins Krisenmanagement schalten.

Wie genau ist das bei Ihnen abgelaufen?

Marina Kermer: Wir haben die Arbeitszeiten für unsere Mitarbeiter flexibler gestaltet und zwar im Rahmen von 6 bis 22 Uhr. Bis heute. Somit kann sich jeder seine Arbeit über den Tag selbst organisieren und einteilen. Es ist auch möglich, sonnabends zu arbeiten. Wer sich wochentags um seine Kindern kümmern muss, weil Schulen und Kitas geschlossen sind, kann einen Teil seiner Arbeit jetzt auch sonnabends erledigen. Wir haben einen Pandemieplan erstellt und einen Krisenstab eingesetzt. Wir haben dort, wo es sich anbot, zügig Homeoffice eingeführt und die Telearbeit verstärkt. Wo es machbar ist, läuft der Kontakt mit unseren Klienten telefonisch oder digital. Wir haben eine Hotline eingerichtet und im Erdgeschoss Kontaktbüros. Dort können viele Fragen vorab geklärt werden, ohne dass der Klient hoch zum Berater oder in den Leistungsbereich muss. In dringenden Fällen bleibt natürlich der persönliche Kontakt – auf Abstand und mit nur noch einem Mitarbeiter pro Büro.

Wie hoch ist die Arbeitsbelastung für die Mitarbeiter?

Marina Kermer: Sie ist gestiegen, keine Frage. Auch weil die Zahl der Grundsicherungsempfänger nach oben ging. Wir hatten im Dezember 2020 insgesamt 21 539 erwerbsfähige Leistungsberechtigte und damit knapp 1200 mehr als im Vorjahresmonat. Aber wir versuchen die Belastung für unsere Mitarbeiter, auch die psychische, so gering wie möglich zu halten. Indem wir steuern, Schwerpunkte setzen und umorganisieren. So helfen einige unserer Arbeitsvermittler zum Beispiel nach einem Crashkurs im Leistungsbereich mit, damit unsere Leistungsberechtigten auch in der Krise ihr Geld pünktlich bekommen. Ich persönlich habe ein hohes Maß an Solidarität unter den Mitarbeitern der verschiedenen Bereiche erlebt. Ein positiver Effekt der Krise. Jeder bringt sich mit seinen Kompetenzen ins Team ein. Da muss nicht viel erklärt werden, es funktioniert. Das Wichtigste aber ist die Gesundheit unserer Mitarbeiter. Glücklicherweise hatten wir bisher nur einzelne Corona-Fälle im Haus.

Mussten Sie Stellen neu ausschreiben und auch besetzen?

Marina Kermer: Nein, wir haben bisher alles mit unseren 443 Mitarbeitern geschafft. Durch Schwerpunktsetzung, wie ich schon erwähnte. Allein wegen der Krise haben wir keine Stellen ausschreiben müssen.

Sind Ihre Klienten sehr verunsichert, gab es einen großen Ansturm von Selbstständigen oder eher nicht?

Marina Kermer: Zu Beginn der Krise waren sicher viele verunsichert. Bleiben die Jobcenter offen? Bekomme ich meine Grundsicherung? Wie schnell wird mein Antrag bearbeitet? Ich denke, wir haben all diese Zweifel professionell ausräumen können. Das hat auch eine Umfrage unter unseren Klienten bestätigt, die durchweg zufrieden mit unserem Service in der Krise sind. Trotz Mehrbelastung und Unsicherheit, die es anfangs ja auch unter unseren Mitarbeitern gab. Was die Selbstständigen angeht, so haben deutlich mehr als sonst einen Antrag auf Grundsicherung gestellt, manche womöglich nur vorsorglich. Aber in der Summe ist die Zahl der Anträge rapide gestiegen. Von März bis Dezember 2020 waren es 1260 – über fünf Mal so viele wie im Vorjahr. Deshalb haben wir ein Team Leistung und ein Team Beratung nur für Selbstständige zusammengestellt. Es macht sich bemerkbar, dass es im Bezirk viele klein- und mittelständische Unternehmen gibt. Die Unternehmen haben natürlich versucht, Entlassungen zu vermeiden und Kurzarbeitergeld beantragt. Aber vor allem die kleineren haben es eher nicht geschafft. Seit letzten Oktober hat sich die Lage aber verbessert, so mein Eindruck, weil die Hilfen gegriffen haben. Wie es den Unternehmen nach der Krise geht und ob es im schlimmsten Fall zu einer Kündigungswelle kommt, wenn das Kurzarbeitergeld ausläuft, müssen wir abwarten.

Die Nachfrage an Arbeitskräften und damit die Vermittlung durch das Jobcenter, dürfte gesunken sein. Ist das richtig?

Marina Kermer: Ja, vor allem die Zeitarbeit ist stark zurückgegangen. In der Gastronomie, Hotellerie und im Eventbereich gibt es coronabedingt ja kaum noch Jobangebote. Hier ist die Vermittlung von Langzeitarbeitslosen in den ersten Arbeitsmarkt besonders schwierig. Deshalb setzen wir vermehrt auf Qualifizierungen, zum Beispiel zum Berufskraftfahrer. Damit die Leute fit sind, wenn die Krise vorüber ist. Viele Branchen haben sich während der Pandemie hoch digitalisiert. Auch hier dürfen unsere Klienten den Anschluss nicht verlieren. Arbeitskräfte suchen aber nach wie vor das Handwerk, der Gesundheits- und Pflegebereich.

Wie geht es Ihnen heute persönlich und was hoffen Sie für die Zukunft?

Marina Kermer: Mir geht es gut, danke. Ich bin Sternzeichen Widder, habe viel Energie und Stehvermögen. Und ich arbeite gern hier im Jobcenter, weil ich hochmotivierte Mitarbeiter habe, die nach ihrem Nachbarn schauen und unterstützen, wo sie können. Bemerkenswert ist auch, dass sich in der Krise viele Klienten melden und sich bedanken. Das freut mich sehr. Was ich mir für die Zukunft wünsche? Dass wir und unsere Familien gesund durch die Krise kommen und manches auch als Chance sehen. Das gestärkte Teamwork zum Beispiel und die Fähigkeit, sich schnell auf neue Bedingungen einzustellen. Wichtig ist für mich auch, dass die Wirtschaft die Kraft hat, aus der Krise zu kommen. Für unsere Klientel. Denn der Fachkräftemangel ist immer noch groß. Ende letzten September haben wir mit dem „Marktplatz“ ein neues Format ausprobiert. Unternehmen und Träger haben sich bei uns im Hof mit ihren Jobangeboten vorgestellt. Das ist sehr gut angekommen, wir werden das wiederholen – nach der Krise.

Autor:

Ulrike Kiefert aus Mitte

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