Ringvereine gegen Zimmermänner
Die "Schlacht am Schlesischen Bahnhof" vor 90 Jahren

Das Lokal "Naubur" befand sich einst etwa an dieser Stelle auf dem heutigen Mittelstreifen der Holzmarktstraße.  | Foto: Thomas Frey
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  • Das Lokal "Naubur" befand sich einst etwa an dieser Stelle auf dem heutigen Mittelstreifen der Holzmarktstraße.
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Wegen des Fernseh-Mehrteilers "Babylon Berlin" war zuletzt der Blick in das nächtliche, halbseidene Berlin der 1920er-Jahre angesagt. In diese Kategorie passen auch die Ereignisse vom Dezember 1928 rund um den heutigen Ostbahnhof.

Sie sind als "Schlacht am Schlesischen Bahnhof" nicht nur in die Verbrechensgeschichte eingegangen. Ihre Bilanz: zwei Tote, mehrere Dutzend zum Teil schwer Verletzte; über 200 Beteiligte, vor allem Hamburger Zimmerleute und Mitglieder der sogenannten Berliner Ringvereine.

Die Ringvereine hatten nach den Ereignissen vor 90 Jahren ungefähr den Ruf, den heute arabische und andere Großfamilien genießen: kriminelle Organisationen, die in den Bereichen Einbruch, Hehlerei, Schutzgelderpressung oder Prostitution unterwegs waren, mit Dominanz etwa um den Schlesischen Bahnhof. Damals ein Hotspot der Halb- und Unterwelt.

Die Ringbrüder bewerteten sich selbst als eine Art soziale Organisation. Hilfe für in Not geratene Mitglieder stellten sie als Vereinsziel heraus. Saß jemand von ihnen im Gefängnis, kümmerten sie sich um seine Familie und halfen nach der Entlassung häufig beim Wiedereinstieg in den ursprünglichen „Beruf“.

Das Gebiet am Schlesischen Bahnhof stand unter weitgehender Kontrolle des Ringvereins "Immertreu 1921". Der hatte bereits vor der Eskalation kurz nach Weihnachten 1928 ein Problem mit den Hamburger Zimmermännern. Die waren zwecks Arbeit am Bau der heutigen U-Bahnlinie 5 nach Berlin abkommandiert worden. Deren großspuriges Auftreten gepaart mit schlagkräftigen Argumenten stellte die Autorität der Immertreuen auf eine harte Probe. Auch dadurch, dass sich manche Kneipenwirte durch die Hamburger genügend geschützt sahen und dem Ringverein das Schutzgeld verweigerten.

Verschwundene Jacke war Auslöser

Trotzdem plädierte Immertreu-Geschäftsführer Adolf Leib, genannt "Muskel-Adolf", für Abwarten. Das Thema hätte sich spätestens nach Ende des U-Bahnbaus erledigt, meinte er. Die heutige U5 eröffnete im Dezember 1930, zunächst bis Friedrichsfelde. Dass es dann auch bei Muskel-Adolf zu einem Meinungsumschwung kam, hatte als Ursache eine verschwundene und dann wieder gefundene Zimmermannsjacke. Ihr erneutes Auftauchen feierte der Besitzer samt Kollegen am Abend des 28. Dezember exzessiv im Lokal "Klosterkeller" an der Klosterstraße. Aus dem Gelage entwickelte sich Krawall. Ein Zimmermann stieß Biergläser um und krakeelte. Als ihn der Wirt zum Verlassen aufforderte, widersetzte er sich. Nun griffen auch andere Gäste ein, es kam zu einer Schlägerei, bei der der renitente Hamburger mit einem Messer um sich stach. Das Resultat war ein Schwerverletzter, der wenige Tage später starb.

Bei dem Toten handelte es sich um ein Mitglied des "Männergesangvereins Norden 1891". Dahinter verbarg sich ebenfalls eine Ringformation. Solidarität anderer „Brüder“ war deshalb angesagt. Vor allem die von Immertreu.

Die Abrechnung folgte am nächsten Abend. Und zwar im und vor dem Lokal „Naubur“ an der damaligen Breslauer Straße 1 (heute Straße Am Ostbahnhof), eine der Stammkneipen der Zimmerer. Zunächst wurden dort nur Muskel-Adolf sowie ein fünfköpfiges Gefolge vorstellig, unter anderem der Wirt des Klosterkellers, der den Messerstecher identifizieren sollte. Weitere Unterstützer warteten auf der Straße. Als der Mann erkannt war, forderte ihn Muskel-Adolf zum Gang nach draußen auf. Der folgte zunächst mehr oder weniger bereitwillig, stoppte aber an der Tür, als er die Menschenmenge sah. In diesem Moment bekam er einen Schlag auf den Kopf und wurde auf die Straße geworfen. Damit begann der erste Teil der Auseinandersetzung.

Die Zimmermänner kamen dem Kameraden zu Hilfe und attackierten die Immertreuen mit ihren Werkzeugen. Die Kontrahenten wehrten sich mit Stuhlbeinen und Billardqeues. Aus dem Lokalmobiliar wurde schnell Kleinholz.

Da die Ringbrüder zunächst in der Minderheit waren, zogen sie sich nach einigen Minuten zurück und forderten über eine Telefonkette Verstärkung an. Auch die Polizei traf kurz darauf mit drei Einsatzkräften ein. Ihre Nachforschungen blieben ergebnislos. Die Beamten zogen wieder ab, gaben vorher noch den Rat, die Rollläden herunterzulassen.

Bis zu 100 Schüsse fielen

Erst danach begann die eigentliche Schlacht. Nach und nach trafen Ringbrüder, häufig per Taxi, ein. Sie verschwanden im Lokal "Leos Hof", das schräg gegenüber des Naubur lag. Auch die Zimmerleute hatten bei der Maurergilde um Unterstützung nachgesucht. Sechs Maurer machten sich auf den Weg, vier wurden abgefangen und zusammengeschlagen. Was wiederum die Zimmermänner auf die Straße trieb.

In den folgenden rund 20 Minuten wurde nicht nur mit Fäusten gekämpft. Auch zwischen 60 und 100 Schüsse fielen. Dazu kamen weitere Waffen zum Einsatz. Muskel-Adolf soll einem Kombattanten eine Axt aus der Hand gerissen haben. Beim späteren Prozess wurde ihm dies zugute gehalten.

Als die anrückenden Sirenen des Überfallkommandos zu hören waren, suchten die Immertreuen samt Verwundeten das Weite. Zurück blieben zahlreiche schwer verletzte Zimmermänner und Maurer. Einer starb auf dem Weg ins Krankenhaus, ein weiterer Beteiligter einige Tage später in der Klinik. Die Todesursache waren bei ihm aber nicht die Blessuren der Schlacht, sondern eine Grippeerkrankung plus Lungenentzündung. Letztere hatte er sich im Krankenhaus zugezogen.

Milde Haftstrafen und Freisprüche

Die Ereignisse am Schlesischen Bahnhof sorgten für ein nicht zuletzt mediales Nachhutgefecht. Detailliert widmeten sich die Zeitungen den Gewaltexzessen und den Ringvereinen. Die Polizei, so ein Vorwurf, habe sie zu lange mehr oder weniger geduldet. Ändere sie das jetzt, ginge das womöglich über ihre Kräfte.

Dass den Syndikaten nicht so ohne weiteres beizukommen war, zeigten auch die folgenden Wochen. Zunächst waren mehr als 20 Mitglieder verhaftet worden. Bis auf zwei kamen alle bald wieder auf freien Fuß. Sie hatten die Auseinandersetzung als eine Art "Scherz" bezeichnet. Auch ein Verbot der Ringvereine Immertreu und Norden musste nach etwa einem Monat wieder aufgehoben werden.

Beim Prozess, der vom 4. bis 9. Februar 1929 stattfand, wurden ihre neun Angeklagten durch Dr. Dr. Erich Frey und Dr. Max Alsberg vertreten, zwei der bekanntesten Strafverteidiger der Weimarer Republik. Zeugen konnten sich an nichts mehr erinnern oder gar jemanden erkennen. Adolf Leib erklärte, er habe den Messerstecher nur ausfindig machen wollen, um ihn anschließend der Polizei zu übergeben. Außerdem wurde ihm der verhinderte Axt-Angriff zugute gehalten. Leib erhielt eine Gefängnisstrafe von zehn Monaten, ein weiterer Angeklagter wurde zu fünf Monaten verurteilt. Für die anderen gab es Freisprüche.

Skurrile Popularität

Was blieb, war ein gestiegener Bekanntheitsgrad der Ringbrüder und eine Art schaurig-skurrile Popularität. Als der Regisseur Fritz Lang 1931 seinen Film „M – eine Stadt sucht einen Mörder“ drehte, wurde Muskel-Adolf als Berater engagiert. Denn in dem Werk ging es um einen Kindermörder, auf den sowohl die Polizei, als auch Unterweltorganisationen Jagd machen.

Mit der Machtergreifung der Nationalsozialisten kam das Ende der Ringvereine. Viele ihrer Mitglieder landeten im Konzentrationslager. Auch Adolf Leib. Sein weiteres Schicksal ist nach 1934 unbekannt. Nach dem Zweiten Weltkrieg gab es nicht zuletzt in Kreuzberg eine Art Comeback des Ringwesens. In den 1960er-Jahren endete auch diese Epoche, aber nicht die Geschichte des Verbrechens und von Verbrecherorganisationen in Berlin.

Zahlreiche Informationen für diesen Text stammen aus dem Buch „Pistolen Franz und Muskel Adolf“ von Regina Stürickow. Es ist 2018 im Elsengold-Verlag erschienen und kostet 26 Euro.

Autor:

Thomas Frey aus Friedrichshain

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