Das Buch "Boxhagen beginnt" erzählt Geschichte des Freudenberg-Areals
Friedrichshain."Ich werde nie das Gefühl vergessen, als meine Mutter plötzlich ihre Fingernägel in meinem Arm vergrub. Die Gebäude waren verfallen. Aber für sie waren sie ein Blick in ihre Vergangenheit, selbst nach über einem halben Jahrhundert problemlos wiederzuerkennen."
So beschreibt Tomas S. Hirschmann die erste Wiederannäherung seiner Familie im Jahr 1990 an ein Grundstück, das ihr einst gehörte: die heute unter dem Namen Freudenberg-Areal bekannte Fläche zwischen Boxhagener- und Weserstraße. Die Zeilen stehen im Vorwort zu dem Buch "Boxhagen beginnt", das in diesen Tagen erscheint.
Das Gelände war nicht nur Schauplatz von Bezirks- und Industriegeschichte. Es ist auch wichtiger Teil einer Familiensaga, deren Mitglieder, ihrer Heimat und ihres Besitzes beraubt, erst jetzt die gebührende Würdigung finden.
Auf dem Freudenberg-Areal baut das Immobilienunternehmen Bauwert derzeit ein neues Quartier mit mehr als 600 Wohnungen, Geschäften, Kita und einer öffentlichen Grünfläche. Um das Vorhaben hat es viele Diskussionen gegeben. Auch die Vergangenheit spielte dabei teilweise eine Rolle, so als Ende 2014 alte Grabstellen ausgehoben wurden. Sie gehörten zu einem ehemaligen Friedhof. Der wurde ab Ende des 19. Jahrhunderts vom Firmenkonglomerat von Siegfried Hirschmann umrahmt. Siegfried Hirschmann war der Großvater von Tomas S. Hirschmann. Der Enkel lebt in Guatemala, wo er 1938 zur Welt kam. Dorthin waren seine Eltern und Großeltern als deutsche Juden vor den Nazis geflohen.
Berliner Wurzeln erforscht
Nicht nur der Gräberfund war für den SPD-Abgeordneten Sven Heinemann ein Anlass, sich mit der Geschichte des Grundstücks zu beschäftigen. Er stieß mit Hilfe des Moses-Mendelssohn-Zentrums in Potsdam auf Tomas S. Hirschmann. Der forschte selbst nach seinen Berliner Wurzeln und war im Besitz von bisher unbekannten Fotos, die im Buch zum ersten Mal veröffentlicht werden.
Der damals 32-jährige Siegfried Hirschmann erwirbt 1895 die Grundstücke Boxhagen 7 und 8 und errichtet darauf eine Fabrik. 1890 hatte er in Berlin eine Firma gegründet, die Gummi und isolierte Kupferleiter herstellt. Mit dem Umzug nach Boxhagen werden daraus die Deutschen Kabelwerke (DKW), später die Deutsche Kabelwerke Aktiengesellschaft. Daran beteiligt sind weitere Familienmitglieder. Zum Herstellen von Kabel und der Gummiproduktion kommen weitere Geschäftsfelder. Etwa die Reifensparte. Auch Automobile werden gebaut, konkret das Dreirad Cyklonette. Weil die Fläche an der Boxhagener Straße nicht mehr ausreicht, entsteht 1921 in der Nähe von Fürstenwalde ein weiteres Werk, es gibt Firmen und Dependancen im Ausland.
Deutsche Kabelwerke werden "arisiert"
Bei der Machtübernahme der Nationalsozialisten 1933 ist der fast 70-jährige Siegfried Hirschmann noch immer Vorstandsvorsitzender der Deutschen Kabelwerke. Sein Bruder Bernhard steht dem Aufsichtsrat vor. Sehr schnell wird ihnen deutlich gemacht, dass ihr Unternehmen "arisiert" werden soll. Wahrscheinlich um dem Nachdruck zu verleihen, wird ein Ermittlungsverfahren wegen angeblicher Untreue und Bilanzverschleierung initiiert. Siegfried Hirschmann kommt bis November 1933 in Untersuchungshaft. Der Prozess endet zwar mit Freispruch, aber die Familie wird zur Aufgabe ihres Besitzes genötigt. Die Dresdner Bank, schon zuvor Großaktionär, erwirbt die Anteile der Hirschmanns zu einem Preis völlig unter Wert, wie 74 Jahre später höchstrichterlich festgestellt wird. Verkauft werden sie danach viel teurer an die Kabelwerke Rheydt. Während des Zweiten Weltkriegs ist die Firma ein Rüstungsbetrieb. Auch Zwangsarbeiter sind dort beschäftigt.
Siegfried Hirschmann und seine Frau Frieda verlassen Deutschland am 3. August 1939 und damit im allerletzten Moment vor Kriegsbeginn. Erste Station ist London. Dort lebt bereits ihre Tochter Elise Reiffenberg. Sie ist unter dem Namen Gabriele Tergit als Gerichtsreporterin und Schriftstellerin in der Weimarer Republik bekannt geworden, vor allem durch ihren Roman "Käsebier erobert den Kurfürstendamm" (1931). An Gabriele Tergit erinnert heute eine Promenade am Potsdamer Platz.
Auch andere Mitgliedern der Familie waren inzwischen ausgewandert. Aber nicht alle. Wer bleibt, wie drei Schwestern von Siegfried Hirschmann, wird in den Vernichtungslagern ermordet. Siegfrieds Sohn Ernst, ab 1917 ebenfalls bei den Deutschen Kabelwerken beschäftigt, emigriert 1936 mit seiner Frau Lisa nach Guatemala. Dort treffen im November 1939 seine Eltern ein. Mit nichts weiter als einem kleinen Koffer. Ihre Möbel und weiterer Besitz sind im Hamburger Hafen "verloren gegangen". Siegfried Hirschmann stirbt am 8. März 1942.
Enteignung und Entschädigung
Nach Kriegsende und den Enteignungen auf dem Gebiet der DDR werden die Kabelwerke zum Volkseigenen Betrieb (VEB). Danach gibt es mehrere Um- und Neustrukturierungen. Hergestellt werden zuletzt Produkte vom Handschuh bis zur Dichtung.
Anfang 1992 verkauft die Treuhand das Werk an die Firma Freudenberg. Freudenberg zieht 2011 nach Adlershof und veräußert das Gelände an die Bauwert.
Die Hirschmann-Erben bemühen sich lange mit geringem Erfolg um eine zumindest materielle Wiedergutmachung. 1990 beantragen sie die Rückübertragung des Betriebs- und Grundvermögens der Deutschen Kabelwerke. Das wird vom Berliner Landesamt zur Regelung offener Vermögensfragen 1999 abgelehnt. Allerdings spricht es ihnen für den Verlust der Aktienanteile einen Anspruch auf Entschädigung zu. Den bekräftigt zehn Jahre später in letzter Instanz das Bundesverwaltungsgericht und legt die Summe auf rund 730 000 Euro fest.
Ein "glücklicher Abschluss"
Tomas S. Hirschmann hat nach eigenen Angaben erst spät begonnen, sich näher mit seiner Familiengeschichte zu beschäftigten. Auslöser war der eingangs beschriebene Besuch mit seiner Mutter an der Boxhagener Straße. Dass auf dem Gelände seines Großvaters jetzt 600 Wohnungen für Familien entstehen, bedeutet für ihn "einen glücklichen Abschluss einer beeindruckenden Familiengeschichte".
Die Bauwert hat die Herstellungskosten für das Buch übernommen und ist neben Sven Heinemann Herausgeber. Der Autor verzichtet auf ein Honorar, der Verkaufspreis von zehn Euro dient als Spende.
Auf dem Areal wird künftig ebenfalls an die Vergangenheit erinnert. Der zentrale Platz soll nach Siegfried Hirschmann heißen. tf
Autor:Thomas Frey aus Friedrichshain |
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