"Das Gefühl, gejagt zu werden": Cansel Kiziltepe und ihr Leben nach der Armenien-Resolution
Eine Veranstaltung vor Kurzem im Rathaus Kreuzberg. Die Tür öffnet sich und zunächst erscheint ein stämmiger Mann, der unschwer als Sicherheitskraft zu erkennen ist. Ihm folgt ein Kollege und zwischen den beiden bewegt sich Cansel Kiziltepe.
Das Leben der SPD-Bundestagsabgeordneten aus Friedrichshain-Kreuzberg hat sich seit der Armenien-Resolution ziemlich verändert – ebenso wie das von zehn weiteren Parlamentsmitgliedern mit türkischen Wurzeln. Darüber und wie sie damit umgeht, sprach sie mit Berliner-Woche-Reporter Thomas Frey.
Seit wann begleiten Sie diese Herren?
Cansel Kiziltepe: Seit einigen Tagen. Mir wurde geraten, vor allem bei manchen Außenterminen darauf nicht zu verzichten. Ich befolge das, auch wenn es eine Einschränkung der eigenen Freiheit bedeutet.
Das heißt, Sie sind ebenso wie andere Kolleginnen und Kollegen Drohungen ausgesetzt?
Cansel Kiziltepe: Ja und natürlich auch zahlreichen Beschimpfungen, die vor allem über die sozialen Netzwerke laufen. Wobei es andere noch viel schlimmer getroffen hat, vor allem den Grünen-Vorsitzenden Cem Özdemir, der als Hauptinitiator der Resolution gilt. Angefeuert wird das alles durch die Attacken aus der Türkei, namentlich von Herrn Erdogan und seiner AKP-Partei. Jetzt soll gegen uns Anklage erhoben werden. Ich gehöre außerdem zu einigen Betroffenen, die neben der deutschen auch die türkische Staatsbürgerschaft haben. Die werden sie mir wahrscheinlich entziehen. Es ist ein Gefühl, gejagt zu werden.
Wie erklären Sie sich, dass die Aussagen von Erdogan auch in der türkischen Community in Deutschland und bei manchen Verbänden Anklang finden?
Cansel Kiziltepe: Das ist schwer zu begreifen. Erdogan sagt etwas und die Masse folgt ihm. Selbst bei solchen Aussagen wie denen zum Bluttest. So funktioniert Faschismus. Einwanderer aus der Türkei, die hier leben, sieht er anscheinend als seinen verlängerten Arm an. Das dachte er wohl auch bei den Bundestagsabgeordneten. Aber wir sind nicht sein Ausführungsorgan.
Gibt es neben den negativen auch einige positive Erfahrungen?
Cansel Kiziltepe: Insgesamt bekomme ich mehr Ablehnung als Unterstützung. Ein positives und interessantes Erlebnis war für mich aber vor einigen Tagen ein Besuch beim Projekt "Heroes". Es unterstützt Jugendliche mit Migrationshintergrund, sich gegen sexistische und patriarchalische Strukturen zu engagieren. Sehr schnell fiel auch dort das Stichwort Armenien. Ich dachte schon, wohin wird sich das entwickeln? Es folgte aber eine sachliche und differenzierte Diskussion und die Teilnehmer haben mir zugestimmt. Für mich ist das der Beweis dafür, dass jemand, der einigermaßen reflektiert ist, anders argumentiert.
Nach all Ihren Erlebnissen in den vergangenen Wochen, war die Armenien-Resolution trotzdem richtig?
Cansel Kiziltepe: Auf jeden Fall. Man kann natürlich darüber streiten, ob sie vom Bundestag hätte ausgehen müssen, aber dessen fast einstimmiges Votum war ein klares Zeichen. Frau Merkel hat sich dagegen weggeduckt ...
Die SPD-Minister in der Bundesregierung ebenso ...
Cansel Kiziltepe: Nur Bundestagspräsident Norbert Lammert (CDU) hat klare Worte gefunden. Enttäuscht war ich außerdem, wie wenig Rückhalt es aus der Zivilgesellschaft gab.
Was erhoffen Sie sich für die nächsten Wochen?
Cansel Kiziltepe: Natürlich vor allem, dass die Bedrohungen aufhören und wieder ein normaler Umgang möglich wird. Nicht so wie jetzt, wo mich Nachbarn nicht mehr grüßen oder mir geraten wird, ich solle mich nicht in Kreuzberg sehen lassen. Wenn sich die Situation hoffentlich etwas beruhigt hat, plane ich eine Veranstaltung zum Thema Armenien. Vielleicht kann man dort in Ruhe und informiert miteinander reden.
Worum geht es in der Resolution?
Am 2. Juni verabschiedete der Deutsche Bundestag fast einstimmig die sogenannte Armenien-Resolution.
Sie war gemeinsam von den Fraktionen von CDU/CSU, SPD und Bündnis 90/Die Grünen eingebracht worden und erinnert an die Deportationen und Massaker an Armeniern und anderen christlichen Volksgruppen in den Jahren 1915 und 1916 im damaligen Osmanischen Reich, der heutigen Türkei.
Der Tod von rund einer Million Menschen wird in der Resolution als Völkermord gewertet, auch wenn dieser Begriff im Text nur einmal und abgeschwächt auftaucht. Dort heißt es wörtlich: "Ihr Schicksal steht beispielhaft für die Geschichte der Massenvernichtungen, der ethnischen Säuberungen, Vertreibungen, ja der Völkermorde, von denen das 20. Jahrhundert auf so schreckliche Weise gekennzeichnet ist."
Außerdem wird die "unrühmliche Rolle" des damaligen Deutschen Reichs beklagt, das damals wegen des Bündnisses mit dem Osmanischen Reich im Ersten Weltkrieg nicht versucht habe, die Verbrechen zu stoppen.
Das Einstufen als Völkermord sorgt seither beim türkischen Staatspräsidenten Recep Tayyip Erdogan und seinen Anhängern für wütende Reaktionen und Beleidigungen. Besonders im Visier sind dabei die elf türkischstämmigen Bundestagsabgeordneten.
Sie werden als Terroristen, beziehungsweise Anhänger der verbotenen kurdischen Arbeiterpartei PKK bezeichnet. Ihr Blut müsse durch einen Labortest untersucht werden, lautete eine der zitierten Aussagen von Erdogan. Vor allem im Netz kursieren Morddrohungen, weshalb die Betroffenen unter Polizei- oder Wachschutz stehen. ^tf
Autor:Thomas Frey aus Friedrichshain |
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