Ein besonders skurriles Mauerteilstück
Erinnerung an den „Entenschnabel“

Wo einst die Mauer verlief. Eingang zum Entenschnabel am Silvesterweg. | Foto: Thomas Frey
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  • Wo einst die Mauer verlief. Eingang zum Entenschnabel am Silvesterweg.
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Die Straße Am Sandkrug ist eine ruhige Wohngegend. Viele Ältere und einige neuere Häuser befinden sich dort auf häufig großen Grundstücken. Sie endet als Sackgasse.

Eine Besonderheit fällt auch heute ziemlich schnell auf. Die Straßenschilder sind dort blau. Das weist darauf hin, dass dieses Gebiet nicht zu Berlin, sondern zum Land Brandenburg gehört. Genauer gesagt zur Gemeinde Glienicke. Das Terrain reicht allerdings mehrere hundert Meter in das Stadt-, konkret Reinickendorfer Bezirksareal hinein. An drei Seiten bilden die Ortsteile Hermsdorf und Frohnau die Grenze. Nur nach Osten, an der Oranienburger Chaussee, gibt es eine direkte Verbindung nach Glienicke.

Geformt wie der Schnabel einer Ente

Heute spielen solche territorialen Fragen eine eher untergeordnete Rolle. Mehr als 28 Jahre lang war das anders. Da standen der Sandkrug und seine Umgebung für einen besonders skurrilen Verlauf der Berliner Mauer. Den sogenannten Entenschnabel. Denn diese Fast-Enklave mit nur wenigen hundert Metern Breite hatte das Aussehen ähnlich des Mundwerks dieser Vogelart.

Am 13. August wird an den inzwischen 59. Jahrestag des Mauerbaus erinnert. Nach dem Fall am 9. November 1989 wurde der Wall fast durchgehend abgetragen. Wo er einst stand, lässt sich inzwischen durch den Berliner Mauerweg einigermaßen nachvollziehen. Rund um den Entenschnabel wurde der einstige Grenzstreifen inzwischen teilweise bebaut oder von der Natur zurückerobert. Ein Hinweis auf seinen Verlauf in diesem Bereich und dem dahinter liegenden besonderen Gebiet findet sich am ehesten am Silvesterweg. In Form von zwei künstlerisch gestalteten Betonteilen.

In leerstehenden Gebäuden
installierte die Stasi Funktechnik

Die Bewohner des Entenschnabels waren ab 1961 endgültig von ihrer direkten Nachbarschaft abgeschnitten. Wohnen sollten dort nur noch Menschen, die als regimetreu galten. Allerdings waren auch sie Einschränkungen unterworfen. Besucher brauchten eine Genehmigung. Das galt auch für Ärzte oder Handwerker. Teilweise durften die Häuser nicht verlassen werden. Leerstehende Gebäude wurden von der Stasi genutzt, die hier vor allem Funktechnik installierte. Die besondere Beobachtung lag schon daran, dass wegen der nur geringen Breite des Gebietes die Sperranlagen nicht so umfangreich ausfallen konnten, wie an den meisten anderen Mauerteilstücken.

Die topographische Lage sorgte für ein weiteres ziemliches Alleinstellungsmerkmal. Der Entenschnabel lag tiefer, als die benachbarten und zu Frohnau gehörenden Wohnquartiere im Norden. Die angrenzenden Bewohner der Straße Am Rosenanger konnten deshalb über den Betonwall in das Gebiet hineinschauen.

Schon vor dem Mauerbau konnten
sich West-Berliner nicht mehr frei bewegen

Es gab auch andere Auswirkungen, gerade für Reinickendorf. Die Oranienburger Chaussee ist um den Sandkrug und weiter rund einen Kilometer nach Norden die Grenze zu Brandenburg. Einst zur DDR. Schon seit 1952 war ein Befahren dieses Teilstücks für West-Berliner nicht mehr möglich. Der Weg von Hermsdorf nach Frohnau führte fast 38 Jahre über die Burggrafen- und Zeltinger Straße. Am 3. März 1990 wurde die „Entenschnabel-Zufahrt“ im Süden wieder geöffnet. Gut zwei Wochen zuvor, war das bereits am nördlichen Eingang der Oranienburger Chaussee passiert.

Der besondere Grenzverlauf in dieser Gegend sorgte in der Zeit nach dem Mauerbau für einige spektakuläre Tunnelfluchten. Drei sind bekannt und auch legendär geworden. Zunächst der sogenannte „Beckertunnel“. Er entstand Anfang 1962 zwischen dem Haus Oranienburger Chaussee 13 und der gegenüber liegenden Frohnauer Seite. Benannt nach der Familie Becker, die dort wohnte und der eine Zwangsumsiedlung drohte. Sie flüchtete am 24. Januar 1962 durch den 30 Meter langen, 1,20 Meter breiten und 60 Zemtimeter hohen Gang. Außerdem Verwandte und Bekannte, dazu weitere Personen, die auf diese Weise in den Westsektor Berlins kamen. Insgesamt 28 Menschen.

81-Jähriger verhilft Tunnel
zu seinem Namen

Wenige Monate später folgte der „Thomas-“ oder „Rentner-Tunnel“. Die Familie Thomas, Oranienburger Chaussee 22, war durch den Mauerbau teilweise von einander getrennt worden. Ihr unterirdischer Gang wurde ab Mitte April 1962 angelegt. Einstieg war der Hühnerstall auf dem Grundstück. Die Flucht über 32 Meter im Untergrund erfolgte am 5. Mai. Weil diesen Weg vor allem ältere Personen nutzten, etwa der damals 81 Jahre alte Max Thomas, bekam er seinen weiteren Beinamen.

Der „Aagaard-Tunnel“ war mit 50 Metern der längste und führte vom Grundstück Ottostraße 7 in Glienicke in die benachbarte Veltheimstraße in Hermsdorf. Gegraben wurde er zwischen Oktober 1962 und März 1963. 13 Personen gelang auf diesem Weg die Flucht. 2011 wurden Reste des unterirdischen Gangs gefunden. Auch das Haus Ottostraße 7 steht noch, die beiden Fluchtausgangspunkte in der Oranienburger Chaussee wurden dagegen bereits in den 1960er Jahren abgerissen.

Einige Fluchtversuche endeten tödlich

Es gibt auch Hinweise auf Tote in diesem Abschnitt. Am Gedenkkreuz am Edelhofdamm wird an den Polizisten Herbert Bauer erinnert, der am Weihnachtstag 1952 eines der ersten Opfer der deutschen Teilung wurde. Auch der Name Michael Bittner ist dort verzeichnet. Der damals 25-Jährige wurde im November 1986 unweit der Kreuzung Nohl- und Oranienburger Chaussee bei seiner versuchten Mauerflucht erschossen. Dort steht eine Gedenkstele für Michael Bittner sowie für Friedhelm Ehrlich. Auch er starb 1970 im Alter von 20 Jahren an diesem Grenzabschnitt. Nach allem was heute bekannt ist, hatte er aber anscheinend nicht vor zu flüchten, sondern lief wohl aus Provokation in die Sperrzone.

Solche und weitere Spuren lassen sich bei einem Spaziergang finden. Ob sich dabei jemand gerade in Berlin oder schon in Brandenburg befindet, ist nicht immer eindeutig auszumachen, aber auch ziemlich egal. Eine lange Zeit war das anders.

Weitere Informationen zum „Entenschnabel“ gibt es in einer Publikation der Kulturinitiative „Kirschendieb & Perlensucher“. Das Werk „Über das Leben mit der Mauer als Gartenzaun“ entstand aus dem Projekt „szenische Entdeckungstouren“, das 2009 anlässlich des 20. Jahrestags des Mauerfalls durchgeführt wurde. Es kostet acht Euro und ist im Museum Reinickendorf, Alt-Hermsdorf 35, erhältlich. Außerdem kann es, inklusive drei Euro Versandkosten unter www.kirschendieb-perlensucher.de bestellt werden.

Autor:

Thomas Frey aus Friedrichshain

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