Ein Mythos und woher er kommt
Jürgen Enkemanns Hommage an das "andere Berlin"

Autor und Aktivist: Jürgen Enkemann | Foto: Sophie Charlotte Bentzien
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Kreuzberg ist häufig Gegenstand literarischer Betrachtungen. Die Ergebnisse sind oft langweilig, verquast oder voll von Stereotypen. Für Jürgen Enkemanns Buch gilt das nicht. Auch wenn der Titel zunächst vielleicht darauf schließen lassen könnte: "Kreuzberg – das andere Berlin".

Jürgen Enkemann, Jahrgang 1938, ist zwar nicht von Geburt, aber seit Jahrzehnten Kreuzberger. Der habilitierte Anglist gehört bis heute zur Aktivistenszene. Vieles, was er im Buch beschreibt, hat er nicht nur als Beobachter erlebt. Das muss eingepreist werden, schmälert aber nicht seine über weiter Strecken reflektierte und spannende Darstellung. Und Enkemann ist auch anderen, als den bekannten Spuren nachgegangen. Das gehört zum größten Gewinn, den das Werk liefert.

Die herkömmlichen Kreuzberg-Geschichten gehen meist so: Nach dem Mauerbau war der Bezirk, vor allem sein südöstlicher Teil, genannt S0 36, eine Art Enklave, weitgehend umgeben von Ost-Berliner Gebiet. Wer konnte, verließ diesen Kiez mit seinen meist heruntergekommenen Altbauwohnungen. Teilweise verwirklichte Pläne einer Kahlschlagsanierung taten das übrige. In die maroden Behausungen zogen Studenten, Aussteiger oder sogenannte Gastarbeiter. Das alles bildete den Nährboden für das spätere Protestpotential.

Eine Geschichte, die bereits Martin Düspohl in seiner 2009 erschienenen "Kleinen Kreuzberggeschichte" ergänzte. Etwa, indem er darauf hinwies, dass das heutige Kreuzberg immer ein Gebiet für Zuwanderer war.

Zwei legendäre Bürgermeister

Jürgen Enkemann geht noch weiter. Er verortet zum Beispiel die Renitenz auch an zwei legendären Bezirksbürgermeistern. Den einen, Willy Kressmann (SPD), von 1949 bis 1962 Rathauschef, würdigte schon Düspohl als eigentlichen Begründer eines Kreuzberg-Gefühls. Das speiste sich nicht zuletzt durch seine unkonventionelle, bürgernahe Amtsführung.

Für Enkemann gab es dabei bereits einen Vorgänger. Den Bürgermeister Carl Herz. Er amtierte zwischen 1926 und 1933, ehe er als Jude und Sozialdemokrat von den Nazis aus dem Land gejagt wurde. Carl Herz' Schwerpunkte waren die Gesundheits- und Sozialpolitik. Auf diesen Feldern machte er den damaligen Bezirk zum Vorreiter in Berlin. Er verfolgte damit auch einen Partizipationsansatz. Der Bürger war nicht nur Bittsteller. Damit legten beide, so legt Enkemann nahe, den Keim für den bis heute in Politik und Verwaltung vorhandenen Widerstandsgeist.

Bereits dieser Ansatz ist interessant. Jürgen Enkemann liefert noch einen zweiten. Schon bevor Kreuzberg zu jenem vielbeschriebenen Biotop im Schatten der Mauer wurde, war es ein Anziehungspunkt für Künstler. Er verweist speziell auf die "Galerie Zinke", die ab 1959 zwar nur für einige Jahre, aber mit einiger Wirkung an der Oranienstraße existierte. Sie war auch der Geburtsort dessen, was schon damals "Kreuzberger Bohème" genannt wurde. Trotz mancher Missdeutungen des Begriffs, gerade in diesem Zusammenhang, war damit ein konträr zur herkömmlichen Lebensentwürfen artikuliertes Dasein gemeint. Mit auch gesellschaftlichen Veränderungspostulaten, aber eher auf künstlerisch-kulturellen, denn auf politischem Gebiet.

Lange Kreuzberger Nächte

Dafür standen vor allem bestimmte Kneipen wie die "Kleine Weltlaterne" oder der "Leierkasten". Letztere wurde vom Maler Kurt Mühlenhaupt betrieben, dem wahrscheinlich bekanntesten Vertreter der damaligen Bohème-Szene. Gerade Mühlenhaupt konnte aber, wie Enkemann anmerkt, später mit den sogenannten 68ern wenig anfangen.

Spannend, wie der Autor diese beiden Linien gesellschaftlicher Veränderungsprozesse neben- und gegeneinander stellt. Die 68er hatten zunächst in Kreuzberg gar nicht ihre Domäne, fanden aber dort sozusagen das geeignete, weil schon von anderen bearbeitete Biotop. Es blieb aber weiter die Diskrepanz zwischen theoretischem Überbau, der auch in praktisches Handeln überging, und der einfachen Lust an spontaner Provokation. Rebellion versus Revolution.

Den Soundtrack dazu lieferten Bands wie Ton Steine Scherben. Aber das markanteste Beispiel dieser Bipolarität ist ein Lied aus dem Jahr 1978, das inzwischen zum Volksgut geworden ist. Die berühmten "Kreuzberger Nächte" der Gebrüder Blattschuss. Der Song wurde wahrscheinlich deshalb so populär, weil jeder einen Anklang zum "Mythos Kreuzberg" findet. Eine Textzeile, die Enkemann zitiert: "Ein Rentner ruft, ihr solltet euch was schäm'/ ein andrer meint, das liege am System/ das ist so krank wie meine Leber, sag ich barsch..." Die langen Kreuzberger Nächte gehören seither als Bild oder Abziehbild zum Kreuzberger Klischee.

Der Widerstand lebt

Dass sich aus all diesen Zutaten der Kampf gegen den Abriss ganzer Kieze, die Hausbesetzerszene, das Ankämpfen gegen die Obrigkeit, oft mit Unterstützung der eigenen Obrigkeit, herausgebildet hat, all das rekapituliert das Buch ebenfalls, einschließlich zahlreicher einschneidender Ereignisse, etwa den berühmt-berüchtigten 1. Mai und Abgesänge, die Kreuzberg das Schicksal eines normalen Bezirks, respektive Ortsteils, prophezeiten.

Jürgen Enkemann sieht das anders und verweist auf die Auseinandersetzungen der jüngeren Vergangenheit. Es habe sich ein breites Netzwerk an Initiativen entwickelt, aufbauend oft auf einer Basis, die spätestens seit den 1980er-Jahren existiert. Sie sind Anknüpfungspunkt auch für heutige Kämpfe, etwa gegen Spekulation und Gentrifizierung. Wobei der Autor an dieser Stelle in einen Verlautbarungsstil verfällt. So, als müsse er möglichst jedes Beispiel von Widerstandsgeist vermelden, um daran festzumachen, dass der Mythos Kreuzberg weiter lebt und deshalb dort das "andere Berlin" verortet werden kann. Selbst wenn ein Mythos, nach einer Definition, auf die auch Jürgen Enkemann hinweist, weniger das ist, was wirklich so existiert, sondern mehr was damit verbunden wird.

Das Buch hat 240 Seiten und 179 Abbildungen. Es ist im vbb-Verlag erschienen und kostet 25 Euro.

Autor:

Thomas Frey aus Friedrichshain

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