Dagmar Poetzsch hält mit Stolpersteinen mehr als nur Erinnerung wach
Karlshorst. Mehr als 130 Stolpersteine erinnern in Lichtenberg an Bürger, die in der Zeit des Nationalsozialismus verfolgt und ermordet wurden. Die Stolpersteininitiative Lichtenberg mit Dagmar Poetzsch recherchiert die Namen und Lebensläufe und bringt damit ein dunkles Kapitel des Bezirkes ans Licht.
Eine gelbe Villa, bunte Blumen auf dem Hof. Das ist die Wandlitzstraße 49. Eine Idylle, wie es sie hier seit Jahrzehnten gibt. "Wenn ich in Karlshorst spazieren gehe, sehe ich viele dieser Straßen mit anderen Augen", sagt Dagmar Poetzsch. Schüler ziehen an der 64-Jährigen vorbei, ohne die Seniorin mit den roten Haaren weiter zu beachten. Ihre Narben der Vergangenheit, sie bleiben wohl unsichtbar.
Poetzsch erzählt von ihrer Familie: Das Ende des Zweiten Weltkriegs hätte um ein Haar deren Auslöschung bedeutet. Ihre Großmutter und Mutter hatten sich nach dem gewaltsamen Tod des Großvaters das Leben nehmen wollen. Der Verzweiflungsversuch misslang, Narben an den Armen blieben. Die haben bei Dagmar Poetzsch schon als kleines Kind Fragen aufgeworfen. "Krieg hinterlässt so viel Unaussprechliches", sagt sie heute. Die Rentnerin hat sich mit der Geschichte ihrer eigenen Familie auseinander gesetzt und Frieden geschlossen. Doch das Thema der Vergangenheit lässt sie bis heute nicht los. Wie war es wohl für andere Familien in der Zeit des Nationalsozialismus? Viele Lebensläufe sind im Dunkeln verborgen. So begann Poetzsch, die Geschichten von NS-Verfolgten ans Licht zu bringen.
Sie zeigt auf das sonnengelbe Haus: "Hier lebten Menschen, die keine Chance hatten." Vor über 70 Jahren hieß die Wandlitzstraße Prinz-Heinrich-Straße. In der Nummer 21 wohnten schon damals Familien mit Kindern, vielleicht pflanzten auch diese Bewohner Blumen vor dem Hauseingang. Im oberen Stockwerk kochte Josefine Nelhans das Mittagessen für ihre zwei Kinder, die gerade aus den Schulen am Römerweg und an der Treskowallee zurückkehrten. Der Vater Georg leitete die Berliner Textilfirma J.S. Münzer. Diese Familie gibt es nicht mehr. Josefine und Georg wurden 1942 und 1943 in Theresienstadt und Auschwitz ermordet. Ihre Kinder überlebten nur knapp.
Mitte Mai wurden vor dem Haus in der Wandlitzstraße 49 in Gedenken an Josefine und Georg Nelhans zwei Stolpersteine gelegt. Ermöglicht hat dies Dagmar Poetzsch und die Stolpersteininitiative. Über 130 solcher Steine, versehen mit 10 mal 10 Zentimer großen Messingplatten, gibt es im Bezirk. Die meisten befinden sich im Süden Lichtenbergs, da die nördlichen Neubaugebiete erst nach Kriegsende errichtet wurden. Ursprünglich aus der Idee eines Kunstprojektes des Künstlers Gunter Demnig entstanden, sind die Stolpersteine Teil einer von Bürgern getragenen Gedenkkultur geworden.
In Lichtenberg ist Dagmar Poetzsch die "Ansprechpartnerin für Erinnerungskultur". So lautet der offizielle Titel des Ehrenamts, das die 64-Jährige für die Koordinierungsstelle Stolpersteine Berlin innehat. Rund zwei Dutzend engagierte Lichtenberger sind Teil der Initiative, Spenden ermöglichen die ehrenamtliche Arbeit. Die Initiative recherchiert in Archiven, sucht nach Einträgen in Handelsregistern, in Transportlisten der Konzentrationslager. "Es gibt kaum Zeitzeugen", weiß Poetzsch. Wieder und wieder ist die Recherche mühsam, "ein Puzzle". Und doch hilft das Wälzen der Akten, nicht nur den Toten, sondern auch den Lebenden auf die Spur zu kommen.
Einige Nachfahren suchen aus eigenem Antrieb. "Sie suchen dann auf gut Glück, kommen aus dem Ausland, kennen meist nur eine frühere Wohnanschrift." Andere Familien werden erst durch das Gedenken der Stolpersteine nach Jahrzehnten zusammengeführt. So etwa die Nachfahren der Familie Lange: Herta, Eugen, Cäcilie und Hanni Lange überlebten die Zeit des Nationalsozialismus nicht. Die Tochter von Herta Lange schon. Bei der Stolpersteinverlegung im März 2015 in der Konrad-Wolf-Straße 45 kam die in der Welt weit verzweigte Familie zum ersten Mal zusammen. Für Dagmar Poetzsch war das ein sehr berührender Moment, erzählt sie. Die Familie lud sie nach Israel ein. Solche Bande zwischen Lebenden sind selten. Oft genug bedeutet das Gedenken für die Rechercheure der Stolpersteininitative Trauer und Wut über die Greuel der Nationalsozialisten – oft gibt es keine Nachfahren mehr, nur Tote. Ihre Arbeit soll deshalb auch wachrütteln, erklärt Poetzsch. "Wie blind sich die Leute damals gestellt haben, erschreckt mich. Das darf in Zukunft nie wieder passieren." KW
Autor:Karolina Wrobel aus Lichtenberg |
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