Flucht von Deutschland nach Deutschland
Ausstellung im ehemaligen Notaufnahmelager widmet sich einem besonderen Geschichtskapitel

Bettina Effner ist die Leiterin der Erinnerungsstätte. | Foto: Schilp
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Rund vier Millionen Menschen verließen zwischen 1949 und 1990 die DDR in Richtung Bundesrepublik. Fast 1,4 Millionen passierten das Notaufnahmelager Marienfelde. In der Dauerausstellung „Flucht im geteilten Deutschland“ erfahren Interessierte viel über Gründe und Hintergründe.

Mehr als 900 Originaldokumente, Fotos und Gegenstände bieten Einblicke. Es gibt sieben Themenräume. Die Palette reicht von „Gründe zu gehen“ mit Hörstationen, an denen DDR-Bürger im Video erklären, warum sie ihrer Heimat den Rücken kehrten, bis „Flucht und Ausreise im Spiegel der Kunst“. Zu besichtigen ist auch eine Unterkunft mit Originalmobiliar aus den 1950er-Jahren. Zeitweise lebten nämlich bis zu 3000 Menschen in den Wohnblöcken hinter dem Hauptgebäude Marienfelder Allee 66-80, in dem sich die Erinnerungsstätte befindet.

Während des Besuchs der Ausstellung wird sich sicher mancher von einigen Vorstellungen verabschieden. Die DDR wollte ihre Bürger grundsätzlich am Verlassen des Landes hindern? Die Bundesrepublik nahm sie mit offenen Armen auf? Nein, zumindest in den Anfangsjahren beider deutschen Staaten war das nicht so. „Zunächst sah die SED-Staatsführung Flucht gar nicht als so dramatisch an. Es herrschte ja überall Mangel. Und Nazis oder Großgrundbesitzer wollte man sowieso loswerden“, erklärt Bettina Effner, Leiterin der Erinnerungsstätte Notaufnahmelager Marienfelde. Erst mit den Arbeiterprotesten 1953 habe sich die Stimmung geändert. Immer mehr Menschen packten ihre Sachen – diese Schmach wollte die DDR nicht hinnehmen.

Und im Westen wurden die Flüchtlinge nicht vorbehaltlos willkommen geheißen. Sie mussten gute Gründe wie eine politische Verfolgung nachweisen, um eine Aufenthaltsgenehmigung zu bekommen. „Im Jahr 1950 wurden 60 Prozent der Anträge abgelehnt“, so Effner. Die Botschaft sei damals gewesen: Bleibt lieber in der DDR und leistet Widerstand. Wir haben selbst genug Probleme mit Arbeitslosigkeit, Wohnungsnot und den Vertriebenen.

Doch einfach zurückschicken wollte man die Menschen auch nicht. „Keine Aufenthaltsgenehmigung, keine Arbeit, keine Wohnung. Viele saßen in Dauerlagern fest, das war ein großes Problem für West-Berlin.“ Doch bald änderte sich die Praxis und die Zahl der Aufenthaltsgenehmigungen stieg sprunghaft. 1952 einigten sich West-Berlin und die Bundesrepublik auf eine gemeinsame gesetzliche Regelung, nun konnten Flüchtlinge auch ausgeflogen und auf das ganze Land verteilt werden. Zu dieser Zeit wurde das Notaufnahmelager Marienfelde gebaut. Alle Flüchtlinge, die im Westteil der Stadt ankamen, mussten sich hier registrieren lassen. Sie wurden ärztlich untersucht, von den geheimen militärischen Abschirmdiensten der West-Alliierten befragt, bei Bedarf mit Wäsche, Kleidung und Hygieneartikeln ausgestattet. Insgesamt hatten sie ein Dutzend Stationen zu durchlaufen. Zuletzt wurde ihnen eine Unterkunft zugewiesen, von denen es zeitweise über 90 in Berlin gab – von der Villa bis zum ehemaligen Zwangsarbeiterlager.

Eine Zäsur bildete der Mauerbau. Wer nicht in der DDR bleiben wollte, dem blieben nur die Flucht mittels Helfern aus dem Westen, Tunnelbau, falschen Pässen oder das todesmutige Überwinden der Grenzanlagen auf eigene Faust. Im Jahr 1963 sei dann das erste Mal ein DDR-Bürger aus der Haft freigekauft worden, sagt Bettina Effner. In der Regel floss bei diesen Transaktionen aber kein Geld, sondern der Westen lieferte bestimmte Waren als Gegenwert. „Mit einem Freikauf konnte ein Inhaftierter nie fest rechnen. Das Verfahren war völlig intransparent und lag in der Hand Einzelner“, so Effner. Der dritte Weg aus der DDR war der Ausreiseantrag – Ausgang ungewiss.

Das Notaufnahmelager Marienfelde hatte am 1. Juli 1990 ausgedient. Danach blieb es Anlaufstelle für Aussiedler aus Osteuropa und Staaten der ehemaligen Sowjetunion. Heute dienen die Gebäude als Übergangswohnheim für Geflüchtete. Die Erinnerungsstätte gibt es seit 2005, heute ist sie Teil der Stiftung Berliner Mauer.

Wer mehr über „Flucht im geteilten Deutschland“ wissen möchte, dem sei ein Besuch der Ausstellung empfohlen. Ab dem 12. April ist sie wieder komplett geöffnet, dienstags bis sonntags von 10 bis 18 Uhr. Der Eintritt ist frei. Auf dem Programm stehen auch Führungen für Erwachsene, Jugendliche und Kinder, Zeitzeugengespräche, Angebote für Schulklassen und vieles mehr.

Die derzeitigen Öffnungszeiten und Zugangsbedingungen sind zu finden unter www.notaufnahmelager-berlin.de.

Autor:

Susanne Schilp aus Neukölln

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