Die Stadt ist viel zu laut: Neuer Aktionsplan in Arbeit

Vor der Tür tost der Verkehr. Jürgen Tietz muss das jeden Tag ertragen, seit die Gehrenseestraße ausgebaut wurde. | Foto: Wörrle
  • Vor der Tür tost der Verkehr. Jürgen Tietz muss das jeden Tag ertragen, seit die Gehrenseestraße ausgebaut wurde.
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Berlin. Autos, Busse, Straßenbahnen, dazu viele Baustellen und die Einwohner selbst machen Lärm. Berlin ist so laut, dass es für viele gesundheitsschädlich ist. Tempolimits und Flüsterasphalt helfen bislang nur wenig. Ein neuer Aktionsplan ist in Arbeit.

Laut aufstampfend betritt Jürgen Tietz den Besprechungssaal im Rathaus Lichtenberg. Er schaut sich um, sucht sich einen Platz und knallt eine Mappe mit Unterlagen auf den Tisch. Tietz, der in Hohenschönhausen wohnt, kommt zur "Lärmwerkstatt". Dann lacht er schelmisch. "Denen werden wir schon zeigen, wo es wirklich laut ist", sagt er. Mit "denen" meint Tietz Horst Diekmann vom Referat Immissionsschutz der Senatsverwaltung für Stadtentwicklung und Umwelt, den Lichtenberger Stadtrat für Stadtentwicklung, Wilfried Nünthel, und einige andere Vertreter der öffentlichen Verwaltung, die sich den Lärmbeschwerden der Bürger persönlich stellen wollen. Denn Berlin ist zu laut.

Das menschliche Ohr kann zwar vieles aushalten, wie den Lärm eines Presslufthammers mit einer Lautstärke von etwa 100 Dezibel zum Beispiel oder Rockkonzerte mit bis zu 110 Dezibel. Voraussetzung ist jedoch, dass die Ohren nicht dauerhaft damit beschallt werden. Verkehrslärm von Hauptstraßen mit rund 70 und Autobahnen mit 80 Dezibel sind dagegen gesundheitsschädlich für diejenigen, die diesen Geräuschen Tag und Nacht ausgeliefert sind. In einer Großstadt wie Berlin ist das keine Seltenheit.

Berlin muss also leiser werden. Das sehen nicht nur lärmgeplagte Stadtbewohner so, sondern auch der Senat. Er muss in diesem Jahr einen neuen Aktionsplan erstellen und darin Maßnahmen zur Lärmbekämpfung festlegen. Das fordert die EU und verpflichtet die Politiker, dabei auch die Öffentlichkeit einzubeziehen. Bis Ende Februar konnten alle Berliner deshalb im Internet auf einem großen Stadtplan Orte markieren, an denen es besonders laut ist. Zusätzlich stellten sich Senatsmitarbeiter bei zwei "Lärmwerkstätten" in Spandau und nun in Lichtenberg der Diskussion.

"Wenn es zwei gleich große Straßen gibt, beide in Wohngebieten und auf beiden viel Verkehr - warum wird dann nur die eine zur 30er-Zone? Und warum kontrolliert keiner die Geschwindigkeiten?", fragt eine genervte Anwohnerin der Warschauer Straße. Es sind die Lärmspitzen mitten in der Nacht wie quietschende Schienenreinigungsmaschinen und Lkw-Fahrer, die sich in ihren rappeligen Kisten "Autorennen" liefern, die ihr den Schlaf rauben. "Aber wenn ich von meinem Vermieter Lärmschutzfenster fordere, legt der das sowieso auf die Miete um", beklagt die Endzwanzigerin und markiert ihren Wohnort auf einer großen Karte an der Wand.

Dann ist Jürgen Tietz an der Reihe. Doch er spricht von mehr als von Lärmspitzen. "Ich wohne in der Gehrenseestraße, die mal ein idyllischer Ort war. Dann mussten alle Anwohner Anfang der 90er-Jahre viele Tausend Euro für den Ausbau der Straße bezahlen und nun ist nichts mehr mit Idylle", sagt er mit aufgeregter Stimme. Weil die Straßen ringsum bisher nicht saniert sind und riesige Schlaglöcher haben, brettern die Autofahrer lieber vor seinem Haus entlang. "Und wir haben für diesen Lärm auch noch teuer bezahlt", sagt der knapp 60-Jährige, der sein ganzes Leben hier verbracht hat und sich nicht vom Lärm vertreiben lassen will.

Und bei ihm zu Hause ist es wirklich laut. Sogar bei geschlossenem Fenster kann man die Autos hören - ein unaufhörliches Rauschen. "Die Dezibelgrenze ist hier bei weitem überschritten", beklagt Tietz und zeigt auf die Straße direkt vor seiner Tür. Gegen den Lärm helfen seiner Meinung nach nur radikale Lösungen. "Ich bin für eine City-Maut, die im Raum der jetzigen Umweltzone gelten sollte", sagt Tietz und schlägt gleichzeitig vor, im Gegenzug die Parkgebühren für Anwohner zu senken. Wenn Autofahren in der Stadt richtig was kostet, würde nicht mehr jeder einzeln im Auto sitzen und vielleicht auch mal aufs Rad umsteigen.

Als er diesen Vorschlag den Teilnehmern der "Lärmwerkstatt" verkündet, schaut ihn einer interessiert an: Horst Diekmann von der Senatsverwaltung für Stadtentwicklung. "Ein interessanter Vorschlag und ich bin froh, dass er von einem Bürger kommt", sagt er und nimmt ihn in die lange Liste an Ideen und Problemen auf, die die Teilnehmer an diesem Abend vorbringen.

Vorschläge, wie Berlins Lärmpegel gesenkt werden kann, hat auch die Wissenschaft. So macht Michael Jäcker-Cüppers von der TU Berlin darauf aufmerksam, dass dringend etwas getan werden muss. Studien des Senats zufolge sind momentan rund 300 000 Berliner, die an Hauptverkehrsstraßen wohnen, von zu hohen Lärmpegeln betroffen. "Eine Großstadt muss nicht so laut sein", sagt der Lärmforscher. Einerseits könnte mit klassischen Baumaßnahmen wie Lärmschutzwänden und neuen Fahrbahndecken viel erreicht werden. Großes Potenzial bieten andererseits kostengünstigere Möglichkeiten wie Tempo-30-Zonen, mehr Fahrradwege, ein attraktiver öffentlicher Nahverkehr und gut gewartete Straßenbahnschienen, die nicht quietschen und scheppern. "Mithelfen können auch die Berliner selbst", sagt Jäcker-Cüppers. Weniger Auto fahren und Tempolimits einhalten lauten seine Tipps, die wiederum nahe an die Forderung von Jürgen Tietz heranreichen.

Von der Lärmdiskussion im Rathaus Lichtenberg ist dieser noch nicht überzeugt. "Der Stadtrat hat selbst gesagt, dass das Geld nicht ausreicht, um alle Verkehrsprobleme zu beseitigen, die Lärm verursachen", sagt Tietz. "Mal sehen, wer zuerst was abkriegt." Auch Jäcker-Cüppers hofft, dass der nun zu erarbeitende Aktionsplan zu mehr Erfolg führt als der vorherige. Würde es im jetzigen Tempo weitergehen, dann wäre Berlin erst in 30 Jahren so leise, dass keine Gesundheitsgefahr mehr besteht, erklärt der Lärmforscher.

Gegen mehr Tempo 30

Mehrheit will keine Geschwindigkeitsbeschränkung

Die Mehrheit der Teilnehmer an unserer Leserumfrage ist gegen mehr Tempo-30-Zonen, um damit den Verkehrslärm zu bekämpfen.
„Berlin hat bereits viele Tempo-30-Zonen in Wohngebieten, gegen Verkehrslärm braucht man aber Tempo-30-Abschnitte auf den Hauptverkehrsstraßen“, erklärt Gunnar Milbrand von der Senatsverwaltung für Stadtentwicklung. Die Unterscheidung sei wichtig, wenn man über Maßnahmen zur Lärmbekämpfung sprechen wolle. Doch er warnt auch davor, darin ein Allheilmittel zu sehen. „Tempolimits sind nur eine Maßnahme unter vielen und sie wirken nur, wenn die Autofahrer sich daran halten“, sagt der Experte für Immissionsschutz. Gespalten sehen das die Leser. Auf die Frage „Braucht Berlin mehr Tempo 30 gegen Verkehrslärm?“ antworteten 69 Prozent mit Nein. Milbrand ist erstaunt über das Ergebnis. Bei der Öffentlichkeitsbeteiligung zum neuen Aktionsplan zur Lärmbekämpfung zeigte sich das Gegenteil. „Viele haben selbst vorgeschlagen, Tempolimits einzusetzen“, berichtet er. Ein effektives Konzept gegen Verkehrslärm muss seiner Ansicht nach aber vor allem bei der Masse an Autos ansetzen und diese reduzieren.

Die Gesundheit leidet

2002 hat das Europäische Parlament Vorschriften erlassen, wonach die Lärmbelastung in Städten systematisch erfasst und Maßnahmen beschlossen werden müssen, um Lärm zu bekämpfen. 2005 ging die Richtlinie in nationales Recht über. 2008 hat der Berliner Senat einen Aktionsplan gegen Lärm veröffentlicht. Der Verkehrslärm ist dadurch zwar etwas zurückgegangen, doch insgesamt bleibt der Lärmpegel hoch. Nach Angaben der Senatsverwaltung für Stadtentwicklung konnte die Zahl der von gesundheitsschädlichem Lärm in der Nacht betroffenen Berliner im Vergleich zu 2007 um etwa 40 000 verringert werden. Aber noch immer sind rund 300 000 Anwohner von Hauptverkehrsstraßen betroffen. Damit kein Berliner gesundheitlichen Risiken ausgesetzt ist, müsste der Dauerschallpegel an Hauptverkehrsstraßen mindestens auf 65 Dezibel am Tag und 55 Dezibel in der Nacht sinken. Momentan liegen die Werte zum Teil mehr als 15 Dezibel darüber. 2013 muss die Senatsverwaltung einen Aktionsplan vorlegen. Weitere Informationen unter www.leises.berlin.de.

Jana Tashina Wörrle / jtw
Autor:

Jana Tashina Wörrle aus Charlottenburg

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