Viel mehr als nur der Schulabschluss
Das Berlin-Kolleg hilft seit 60 Jahren Erwachsenen auf den zweiten Bildungsweg

Untergebracht ist das Berlin-Kolleg passenderweise in einem ehemaligen Schulgebäude. | Foto: KEN
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Eine Jubiläumsfeier konnte wegen der Corona-Beschränkungen nicht stattfinden. Der Anlaass für das nun abgesagte Fest ist trotzdem bedeutend: Vor sechzig Jahren wurde das Berlin-Kolleg an der Turmstraße gegründet. Als „Institut für Erwachsenenbildung zur Erlangung der Hochschulreife“ war und ist es sein Ziel, Erwachsene auf dem sogenannten zweiten Bildungsweg zum Abitur zu führen.

Vor sechs Jahrzehnten hatte der Lehrer Georg Picht eine „nationale Bildungskatastrophe“ ausgemacht. Damals verfügten nur acht Prozent eines Jahrgangs über eine höhere Schulbildung. Der Bedarf an Akademikern werde nicht gedeckt, so die Sorge. Die Gründungsidee des Berlin-Kollegs: Mehr Erwachsene sollten sich auf den zweiten Bildungsweg machen und das erreichen, was ihnen auf zunächst noch nicht gelungen war.

Mag heute der Trend, sich gegen eine Berufsausbildung und für ein Studium zu entscheiden – mit der Folge eines Fachkräftemangels in vielen Branchen – manchem in Bildungspolitik und Wirtschaft Kopfzerbrechen bereiten, so hat die Idee des zweiten Bildungswegs doch nichts an Anziehungskraft verloren.

„Gerade jetzt in Zeiten von Corona gewinnt die Idee Bildung für viele wieder an Attraktivität“, beobachtet Andrea Kunze, Lehrkraft und Koordinatorin am Berlin-Kolleg. „Jobs fallen weg, Arbeitsplätze werden unsicher, Sinn- und Lebenskrisen stellen sich ein. Hier treffen viele die Entscheidung, sich auf den zweiten Bildungsweg zu begeben und das anzugehen, was man immer schon machen wollte, aber bisher noch nicht verwirklicht hat“, so Kunze. Seit der Schulschließung erhält das Berlin-Kolleg vermehrt Anfragen.

Noch mal neu anfangen

„Viele am Berlin-Kolleg haben vorher in ihrem Beruf nach einer Reihe von Jahren oder nach bestimmten Lebenserfahrungen das Gefühl entwickelt, dass das, was sie bisher gemacht haben, noch nicht alles gewesen sein kann“, weiß Alexander Perl, ehemals Koch, jetzt Abiturient.

Wer die zehnte Klasse oder einen vergleichbaren Abschluss und 18 Monate berufliche oder Erfahrungen wie Arbeitslosigkeit, Wehrdienst, Ersatzdienst, Führen eines Haushalts mit Kind oder Pflege einer Person nachweisen kann, kann für zwei oder drei Jahre „Kollegiat“ werden. Der Unterricht findet ganztägig statt. Zum Nachholen des Abiturs gewährt der Staat 900 Euro elternunabhängiges Bafög im Monat, das nicht zurückgezahlt werden muss.

Im Berlin-Kolleg an der Turmstraße trifft man auf die ganze Vielfalt der Gesellschaft, auf Menschen, die eine Zeit lang ausgestiegen sind, auf Immobilienmakler, Restaurant-Betreiber, Tänzer und Models, Kfz-Mechaniker, Kellner, Feuerschlucker, Pflegekräfte, Schauspieler und Friseure. Derzeit besuchen 550 Frauen und Männer das Berlin-Kolleg. Auch Flüchtlinge und Immigranten sind darunter. Sie wollen sich auf ein Studium in Deutschland vorbereiten.

Schneiderin wird Radiomoderatorin

„Viele Kollegiaten nehmen am Berlin-Kolleg mehr mit als nur den Lernstoff. Freundschaften, Beziehungen, Wohngemeinschaften entstehen und nicht wenige tanken Selbstbewusstsein auf“, sagt Maria Benning. „Für mich war die Zeit am Berlin-Kolleg wichtig, weil ich mich mit Abitur formal gleichwertig fühlte und mich nicht länger für dumm verkaufen lassen musste von Menschen mit Bildungsdünkel“, so beschreibt es Margit Miosga. Die Berliner Radiomoderatorin hat am Kolleg 1979 das Abitur abgelegt. Zuvor war sie Damenschneiderin.

„Das Berlin-Kolleg hat mich gerettet“, sagt Mariam Lau sogar. Die frühere Krankenschwester ist heute Politikredakteurin einer überregionalen Wochenzeitung. „Vielleicht ist der zweite Bildungsweg als ein Modell für lebenslanges Lernen langfristig sowieso die erste Wahl“, meint Maria Benning.

Weitere Informationen zum Berlin-Kolleg in der Turmstraße 75 gibt es auf www.berlin-kolleg.de.

Untergebracht ist das Berlin-Kolleg passenderweise in einem ehemaligen Schulgebäude. | Foto: KEN
Das schwungvolle Signet des Berlin-Kollegs. | Foto: KEN
Autor:

Karen Noetzel aus Schöneberg

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