Der vergessene „Kirchhof“
Beim Hauptbahnhof befand sich im 18. Jahrhundert ein russischer Soldatenfriedhof

Der Ausstellungspark ULAP hatte im historischen Pharus-Stadtplan von 1902 die Adresse Alt-Moabit 4/10 und Invalidenstraße 57/62. | Foto: Pharus-Plan
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  • Der Ausstellungspark ULAP hatte im historischen Pharus-Stadtplan von 1902 die Adresse Alt-Moabit 4/10 und Invalidenstraße 57/62.
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Es ist der 9. Oktober 1760. 20.000 russische Soldaten unter ihrem General, dem sächsischen Abenteurer Gottlob Curt Heinrich von Tottleben, ziehen in Berlin ein. Die Berliner Garnison und ihr Stadtkommandant ergeben sich. Wohlhabende Bürger fliehen über Moabit nach Spandau.

Unterstützt von österreichischen und sächsischen Einheiten plündern und zerstören die Russen die Stadt. Nach vier Tagen ziehen sie wieder ab. Preußenkönig Friedrich II. rückt im Eilmarsch zur Rettung Berlins heran. Wir befinden uns im Siebenjährigen Krieg. Europas Mächte sind an ihm beteiligt. Österreich will Schlesien zurückerobern. Preußen will es behalten.

Zurück in Berlin: Die feindlichen Truppen hinterlassen eine Spur der Verwüstung, als am 13. Oktober die Russen abziehen. Und sie hinterlassen eine Begräbnisstätte, die heute aus dem Stadtraum und der Erinnerung verschwunden ist. Der „Russische Kirchhof“ war Soldatenfriedhof, ein Begräbnisplatz für russische Soldaten, die während der kurzen, aber einschneidenden Besetzung Berlins während des Siebenjährigen Krieges im Oktober 1760 in Lazaretten gestorben waren.

Das hat schon der Heimatforscher Willi Wohlberedt (1878-1950) für sein vierbändiges „Verzeichnis der Grabstätten bekannter und berühmter Persönlichkeiten in Groß-Berlin, Potsdam und Umgebung“ vermutet. Hans-Jürgen Mende hat die Annahme in seinem posthum erschienenen monumentalen Lexikon Berliner Begräbnisstätten bestätigt.

Der Friedhof befand sich in einem aus Invalidenstraße, Straße Alt-Moabit und dem heutigen Berliner Hauptbahnhof gebildeten Dreieck. Wie viele russische Soldaten dort beigesetzt worden sind, ist unbekannt. Er geriet in Vergessenheit. 1879 wurde auf diesem Areal der „Universum Landes-Ausstellungs-Park“ (ULAP) eröffnet, den bald der S-Bahnviadukt zerschnitt. 1883 entstand ein Ausstellungspalast aus Glas und Stahl. Erst mit dem Bau des Messegeländes am Funkturm 1925 endete die Zeit des ULAP als Ausstellungsort. Der Glaspalast wurde 1936 zum Luftfahrtmuseum. 1943 werden der Park und seine Gebäude bei Luftangriffen zerstört.

Rund sechs Jahrzehnte später beginnt der Bau des neuen Berliner Hauptbahnhofs. Bei den Gründungsarbeiten entdecken Bauarbeiten unter den alten Fundamenten sterbliche Überreste von etwa 500 Toten. Die Gebeine bettete man in 55 Särgen auf den Wilmersdorfer Waldfriedhof in Stahnsdorf um. Hans-Jürgen Mende hatte noch herausgefunden, dass bereits 1890 bei Erdarbeiten für den Ausstellungspark zehn menschliche Schädel gefunden wurden. Sie kamen ins Märkische Museum.

Der „Russische Kirchhof“ hatte übrigens eine schaurige Fortsetzung. 1919 wurden ermordete Spartakisten im Ausstellungspark verscharrt. 1927 entdeckte man bei Elektrifizierungsarbeiten der S-Bahn 126 Leichen. Nach dem Hitler-Attentat vom 20. Juli 1944 führte ein SS-Trupp am 23. April 1945 16 politische Häftlinge aus dem Gefängnis an der Lehrter Straße in den Park und erschoss sie. Unter den Opfern war der Schriftsteller und Widerstandskämpfer Albrecht Haushofer („Moabiter Sonette“). Eine Woche später war in Berlin der Krieg zu Ende. Die flüchtigen Naziführer, NSDAP-Parteikanzleichef Martin Bormann und Hitlers Leibarzt Ludwig Stumpfegger, nahmen sich auf der Eisenbahnbrücke oberhalb des ULAP-Geländes mit Blausäure-Giftkapseln das Leben. Man vergrub sie unten. Ihre Leichen wurden 1972 entdeckt – wiederum bei Bauarbeiten. Ein kleiner Rest ist vom ULAP geblieben.

Autor:

Karen Noetzel aus Schöneberg

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