Groß-Berlin und seine Schattenseiten
Die Berliner Stadtmission half schon vor 100 Jahren den Armen und Benachteiligten
Das 1920 gegründete Groß-Berlin lockte Tausende aus den Provinzen in die Stadt. Der Zuzug hatte aber nicht nur seine guten Seiten. „Die meisten der Zugezogenen sind sehr enttäuscht“, schrieb ein evangelischer Pfarrer in einem Brief an die Berliner Stadtmission.
Die nach dem Deutsch-Französischen Krieg gegründete Organisation der christlichen Mission innerhalb der evangelischen Kirche (Innere Mission) sah sich ursprünglich nicht als Wohltätigkeitsanstalt. Doch angesichts der Schattenseiten der neuen Metropole konnte sich die Stadtmission der Bekämpfung von Armut und Not vieler Menschen nicht verschließen. Zumal der Verein eine Vielzahl an Gefahren ausmachte, denen die Menschen in der Großstadt ausgesetzt waren: „Schundliteratur, schlechtes Kino, Tanzdielen, Bars, Verführung, Verhältnis, Kuppelei, Prostitution“ und daraus folgend: „Geschlechtskrankheiten, Gefängnis, Siechtum, Selbstmord“.
Die Berliner Stadtmission reagierte und engagierte sich in immer neuen „Einsatzgebieten“, wie die heutige Stadtmissionssprecherin Barbara Breuer erklärt. Einer Festschrift zum 50-jährigen Bestehen aus dem Jahr 1927 zufolge, betrieb die Stadtmission inzwischen unter anderem folgende Einrichtungen: Mädchen- und Jungenheime, Kindergottesdienste, Hospize, Zigeunermission, Mitternachtsmission, Landheime, Gefängnisdienst und eine Druckerei.
Mit ihrer „Nachtmission und Gefährdetenfürsorge“ half die Stadtmission gefährdeten Jugendlichen, Prostituierten, Zuhältern und Alkoholikern. Dies entsprach dem inneren Auftrag der Stadtmission, sich um die Außenseiter von Kirche und Gesellschaft zu kümmern.
Die Arbeit der Nachtmission begann 1905. Sie wurde nach 1920 aber verstärkt. 1926 waren beispielsweise 42 Missionsschwestern in der Nachtmission tätig. Sie gingen 374 Mal in die Nacht hinaus, führten 3236 Gespräche und betreuten 3357 Fälle. Aus der Nachtmission entstanden später der „MiMi-Treff“ für Frauen, die „Drinnen und Draußen“-Straffälligenarbeit und unter anderem die Arbeit des Kältebusses, sagt Barbara Breuer.
Ein anderes, ebenso wichtiges Einsatzgebiet der Berliner Stadtmission waren die Hausbesuche. Die Stadtmissionare brachten Brot für die Seele und so manche praktische Hilfe in die Haushalte der ärmeren und ärmsten Bevölkerungsschichten.
Waren die obdach- und heimatlosen Mädchen und Frauen einmal aus dem Milieu herausgeholt, wurden sie in „Zufluchtsheimen“ untergebracht. Fünf solcher Einrichtungen unterhielt die Stadtmission in den 20er-Jahren.
Das älteste und größte dieser Heime war das „Haus Sichar“ mit 90 Betten in Plötzensee. Es kam erst 1925 unter das Dach der Berliner Stadtmission. Gegründet worden war es bereits 1897 vom „Berliner Frauenbund“. Von 1917 bis 1926 wurden in den Heimen mit insgesamt 180 Betten und zehn Notlagern 11 828 obdachlose, heimatlose Frauen und Mädchen aufgenommen und verpflegt. Die Heime wurden aus Zuschüssen der Stadt Berlin, Spenden und eigenen „Arbeitsleistungen“ finanziert.
Bibelstunden und singen
Die „Innenarbeit“ der Heime bestand aus Bibelstunden, dem Singen von Weihnachts-, Passions- oder Jugendliedern und vor allem aus Arbeit. „Sie ist die Medizin für die Nerven, für den kranken Körper (…) – sie ist ebenso Medizin für Liebeskummer, Verbocktheit, Launenhaftigkeit und Sinnlichkeit“, so ein Zitat aus der Festschrift.
Die Wohnungsnot war unvorstellbar groß im neuen „Groß-Berlin“. Eine Statistik von 1927 fasst die schlimme Situation in Zahlen: 78 Prozent der Bevölkerung lebte in Hinterhäusern. Mindestens 150 000 Haushalte besaßen keine eigene Wohnung. Sie waren Gast bei einer anderen Familie. Über 6800 Familien waren in Baracken und Wohnlauben untergebracht. 47 800 Haushalte hatten nur einen Raum, 336 300 zwei Räume. Häufig lebten Eltern und ihre verheirateten Kinder samt deren Nachwuchs in diesen Zweizimmer- und Küchenwohnungen zusammen.
Ein Stadtmissionar berichtete aus dem einstigen Scheunenviertel: „Ein Haus beherbergte ungefähr 250 Familien mit insgesamt 1500 Menschen. Hier fand ich 53 ungetaufte Kinder, von denen jetzt 20 getauft sind, 17 Kinder in wilder Ehe, 22 Dirnen, 15 ungetraute Paare, 4 geschiedene Frauen.“
Die Menschen, zu denen er bei seinen Besuchen ein Vertrauensverhältnis aufgebaut hatte, lud der Stadtmissionar in seine „Saalgemeinschaft“ ein. Dort wurde „organisierte Laienhilfe“ praktiziert. „Viele Hunderte von Helfern“ waren im „Saal“ tätig. Manche versahen ihr Ehrenamt bereits seit 25 oder 40 Jahren. „Wir könnten die einzelnen Arbeiten gar nicht leisten, hätten wir nicht die tausend treuen Hände und emsigen Füße, die in Tätigkeit für die Stadtmission sind“, so der Verfasser der Festschrift.
Autor:Karen Noetzel aus Schöneberg |
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