"Das erschütternd Gewöhnliche"
Ausstellung über Obdachlosigkeit im Rathaus Neukölln

„Unauffällig mitten drin“ – so hat Coers sein Bild genannt. | Foto: Matthias Coers
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  • „Unauffällig mitten drin“ – so hat Coers sein Bild genannt.
  • Foto: Matthias Coers
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„Mitten drin draußen – Ohne Obdach in der Stadt“ ist der Titel der Ausstellung, die noch bis zum 27. November im zweiten Stock des Rathauses, Karl-Marx-Straße 83, zu sehen ist. Gezeigt werden zwei Dutzend großformatige Farbfotos des Filmemachers und Fotografen Matthias Coers zum Leben auf der Straße.

Zu Hause bleiben kann nur, wer eins hat: Auch diesen Spruch, auf eine Neuköllner Hauswand gesprüht, hat Coers aufgenommen. Die wenigen Worte bringen die besonderen Schwierigkeiten während der Pandemie auf den Punkt.

„Draußen ist es wieder leerer geworden, aber deswegen verschwindet die Obdachlosigkeit nicht. Matthias Coers zeigt das in seinen Bildern ohne Voyeurismus und Sensationslust und immer mit einem Blick für die Gegensätze in der Stadt“, so Jochen Biedermann, grüner Stadtrat für Soziales, Stadtentwicklung und Bürgerdienste.

Ein Bild erzähle selbst Geschichten, sagt Coers. Beim Thema Obdachlosigkeit erscheine es ihm aber zwingend, einige der Portraitierten auch zu Wort kommen zu lassen. Denn es gehe nicht um reißerische Motive, sondern eher um „das erschütternd Gewöhnliche, Schlichte, die brutale Normalität“.

Deshalb werden die Fotografien von Interviews flankiert. Neben vier ehrenamtlichen Helfern, die über ihre Arbeit und Motivation berichten, erzählen vier Betroffene, wie sie auf der Straße gelandet sind, was sie sich wünschen und erhoffen – auch von der Politik.

Auch ein Spiegel der Wohnungsproblematik

Da ist zum Beispiel Dieter, ehemaliger Obdachloser und heute Stadtführer: Ihm wurde 2012 wegen Eigenbedarfs die Wohnung gekündigt. Seine Freunde wollte er nicht belästigen, er zog in ein Heim, hielt aber die Enge nicht aus. Er sei letztendlich freiwillig auf die Straße gegangen, sagt er. Das treffe aber seiner Erfahrung nach nur auf rund fünf Prozent der Obdachlosen zu, und von denen seien die allermeisten jung.

Obdachlosigkeit hat auch körperliche Folgen, die kaum jemand kennt. Wer im Freien lebt, verlasse seinen Stammplatz möglichst selten, erzählt Dieter. Die Folge: Die Beinmuskeln machen erstaunlich schnell schlapp. „Für mich waren damals 50 Meter wie heute fünf Kilometer.“ Er schaffte den Weg zurück in eigene vier Wände dank der Unterstützung eines Polizisten, der auf ihn aufmerksam wurde. Seine alte Wohnung, die Dieter vor acht Jahren verlor, steht heute noch leer.

Einen Obdachlosen erkennt man nicht gleich. Das beweist Can, ein junger Mann, der sein Studium abbrach und seine Wohnung verlor, weil er zu viel trank und Mietschulden anhäufte. Er arbeitet inzwischen als Stricher. Oft werde er schief angeguckt oder abgewiesen, wenn er sich an Hilfseinrichtungen wende, sagt er. Er sei zu gut angezogen. „Dabei kenne ich Leute, die sind gepflegt, nüchtern und kiffen nicht mal und sind trotzdem auf der Straße.“

Wenn die Klischees nicht passen

Auch Isabel und Fikri berichten aus ihrem Leben. Beide kommen aus Bulgarien, beide haben Erfahrungen mit Schwarzarbeit gemacht, beide standen irgendwann ohne Geld da. Isabel lebt in einer Kreuzberger Frauenunterkunft und wünscht sich nichts mehr als ein eigenes Zuhause. Dort könnte sie als Diabetikerin, die vier Mal am Tag Insulin spritzen muss, selbst für Sauberkeit und Hygiene sorgen. „Ich hasse Alkohol, ich hasse Drogen. Ich habe in meinem Leben immer gearbeitet, mit normalen Menschen will ich leben und Kontakt haben“, sagt sie.

Seit zehn Jahren lebt Isabel in Berlin, eine wirkliche Familie hat sie nicht, weder hier noch in Bulgarien. Inzwischen ist sie frühverrentet, aber sie würde gerne etwas tun. Neben Bulgarisch spricht sie fließend Farsi, Türkisch, Russisch, Polnisch und Kroatisch. Vielleicht könnte sie dolmetschen, dachte sie sich. „Als ich das Jobcenter gebeten habe, mich da zu unterstützen, meinten sie, ich müsse es selber bezahlen.“

„Gegenwartsfrage, die uns alle angeht“

Obdachlosigkeit sei kein gesellschaftlicher Naturzustand, sondern eine „harte soziale Verwerfung, eine Gegenwartsfrage, die uns alle angeht“, meint Matthias Coers. Die Zahl der Menschen, die auf der Straße leben, nehme zu. Viele andere machten sich Sorgen, ihr Zuhause zu verlieren. „Sich von dem Thema abzuwenden in Zeiten von Wohnraummangel, galoppierender Wohnkosten und sozialer Unsicherheit schützt nicht.“

Wohnen und Stadtentwicklung ist seit vielen Jahren ein zentrales Thema für den studierten Soziologen Coers. Seit der Premiere des Dokumentarfilms „Miet-Rebellen – Widerstand gegen den Ausverkauf der Stadt“ im Frühjahr 2014 hat er über 300 Vortrags- und Filmveranstaltungen in über hundert Städten abgehalten. Häufig arbeitet er mit Gewerkschaften, Mieterorganisationen, der Aids-Hilfe und vielen Initiativen zusammen.

Zu sehen ist die Ausstellung werktags von 9 bis 18 Uhr. Der Eintritt ist frei.

Autor:

Susanne Schilp aus Neukölln

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