„Eine echte Neuköllner Familie“: Doris Prabhu erforschte die Geschichte

Doris Prabhu war überrascht und erfreut, dass sie bei ihren Recherchen eine Zeitzeugin gefunden hat. | Foto: sus
4Bilder
  • Doris Prabhu war überrascht und erfreut, dass sie bei ihren Recherchen eine Zeitzeugin gefunden hat.
  • Foto: sus
  • hochgeladen von Susanne Schilp

Neukölln. Der Künstler Gunter Demnig macht am Sonnabend, dem 9. September, eine Runde in Neukölln und verlegt Stolpersteine. Sie erinnern an Menschen, die von den Nationalsozialisten vertrieben, deportiert oder ermordet wurden. Sechs der Gedenktafeln sind den Recherchen von Doris Prabhu zu verdanken.

Vor einigen Jahren zog sie in die Geygerstraße. Zuvor hatte sie in einem Viertel in Tiergarten gewohnt, wo es kaum Stolpersteine gab. Nun war sie plötzlich ständig mit den kleinen Gedenkplatten konfrontiert. „Ich dachte: Sicherlich haben auch in meiner Nachbarschaft Juden gelebt, wie geschichtsträchtig ist diese Gegend?“ Sie machte sich auf die Suche. Dass sie selbst eine jüdische Großmutter hat, die mit viel Glück die Nazizeit überlebte, spielte eine Rolle, aber keine wesentliche.

„Die im KZ Ermordeten haben keinen Grabstein, sie verschwanden einfach aus ihren Häusern. Ich finde es wichtig, dass an ihrem letzten freiwillig gewählten Wohnort etwas an sie erinnert“, sagt sie.

Dazu kommt, dass die ausgebildete Bibliothekarin viel Spaß an der Recherche hat. Und sie findet es gut, dass Stolpersteine in der Regel Privatinitiativen zu verdanken sind. „Dieses Gedenken ist nicht vom Staat verordnet.“ Also begann sie zu forschen. Mit Erfolg: Vor zwei Jahren stiftete sie vier Stolpersteine in der Geygerstraße. Doch damit fand die Geschichte nicht ihr Ende. Während ihrer Suche war sie 2013 zufällig auf einen Text mit einem Foto gestoßen, das sie nicht mehr losließ: Es zeigt Kurt und Dina Bujakowsky in ihrem Wohnzimmer, ebenfalls in der Geygerstraße. Eine Hausnummer war nicht angegeben.

Doris Prabhu wollte mehr über diese Menschen wissen und stöberte in allen möglichen Archiven, Datenbanken, Meldekarteien, Telefonbüchern und Transportlisten der Nazis. Nichts. Sie fand aber etwas über Kurts Bruder heraus: Dr. Hans Bujakowksi (er schrieb sich mit „i“) war mit seiner Frau Augusta und der 14-jährigen Tochter Helga vor den Nazis nach New York geflüchtet. Aber auch diese Spur endete in einer Sackgasse.

Erst ein Jahr später kam ihr das Glück zu Hilfe. Sie hatte für ein paar Monate eine amerikanische Studentin aufgenommen. Deren Mutter Cathy erfuhr von der Recherche, versprach Unterstützung. Schnell kam die Antwort aus den USA. „Das war unglaublich. Helga lebte noch. Sie ist 92 Jahre alt, fit und ansprechbar“, so Prabhu. Die alte Dame durchforstete sofort alte Dokumente.

Die gesuchte Adresse ihres Onkels und ihrer Tante war bald gefunden: Der Buchhändler Kurt Bujakowsky und seine Frau Dina hatten zuletzt am Weigandufer 30 gelebt, die Geygerstraße war nur eine Übergangsadresse gewesen. 1936 flüchten die beiden über Wien, wo Tochter Stephanie zur Welt kam, nach Paris. Dort wurde die Familie 1942 von verhaftet, alle drei starben in Auschwitz.

„Was als Suche nach einer Hausnummer begann, entwickelte sich zu einer Familiengeschichte“, sagt Doris Prabhu. Zeitzeugin Helga zeigte sich auskunftsbereit, schickte Fotos und Informationen. „Sie schrieb auf Deutsch, bei so viel Tragik hat sie die Sprache bewahrt.“ Doris Prabhu erfuhr: Helgas Familie wohnte in der Bergstraße 46, heute Karl-Marx-Straße 190. Ihr Vater war Gynäkologe und hat viele Neuköllner Babys auf die Welt gebracht. Die Mutter war eng mit der Bading-Familie vom gleichnamigen und heute noch bekannten Musikhaus befreundet.

Als Doris Prabhu dem Geschäft einen Besuch abstattete, wartete eine weitere Überraschung auf sie: Im Laden saß die 91-jährige Brunhilde, Tochter von Erich Bading. Auch sie erinnerte sich gut an Familie Bujakowski aus dem Nebenhaus und gemeinsame sonntägliche Musiknachmittage im Salon.

Doris Prabhu fand noch mehr heraus, zum Beispiel dass Helga die Agnes-Miegel-Mädchenschule, das heutige Albert-Schweitzer-Gymnasium, besuchte – bis sie als Jüdin ausgeschlossen wurde und auf die Goldschmidt-Schule wechselte. Oder dass gerne im „Wittenberg homecooking Wirtshaus in der Passage“ gegessen wurde, wie Helga schreibt. „Homecooking“ dürfte für „nach Hausmacherart“ stehen. „Die Bujakowskis waren eine echte Neuköllner Familie, das war ihr Kiez, hier waren sie verwurzelt“, sagt Prabhu. Bis die Nazis dem ein Ende machten.

Am Sonnabend, 9. September, werden sechs Stolpersteine für die Familie verlegt. Um 9.15 Uhr wird an Kurt, Dina und Stephanie Bujakowsky am Weigandufer 30 gedacht, um 9.45 Uhr an Hans, Augusta und Helga Bujakowksi vor dem Haus Karl-Marx-Straße 190. sus

Autor:

Susanne Schilp aus Neukölln

following

Sie möchten diesem Profil folgen?

Verpassen Sie nicht die neuesten Inhalte von diesem Profil: Melden Sie sich an, um neuen Inhalten von Profilen und Orten in Ihrem persönlichen Feed zu folgen.

25 folgen diesem Profil

8 Kommentare

online discussion

Sie möchten kommentieren?

Sie möchten zur Diskussion beitragen? Melden Sie sich an, um Kommentare zu verfassen.

Beitragsempfehlungen

WirtschaftAnzeige
Foto: pexels/Giulia Freitas
5 Bilder

Mode oder mehr?
Piercing. Von alten Ritualen bis zu moderner Kunst

Ist das Modeakzent oder kulturelles Erbe? Auf jeden Fall ist Piercing die beliebteste und gefragteste Körpermodifikation der Welt, die sowohl persönliche Vorlieben und Modetrends als auch tiefe kulturelle Traditionen widerspiegelt. Was ein modisches Piercing heute ist und wie es sich im Laufe der Zeit verändert hat, erfahren wir zusammen mit VEAN TATTOO in diesem Artikel. Eine der beliebtesten Arten von Piercings ist das Ohrlochstechen. Ein Klassiker aller Zeiten, ist das wirklich so und woher...

  • Mitte
  • 17.04.24
  • 83× gelesen
Gesundheit und MedizinAnzeige
Langanhaltende Schmerzen können ein Anzeichen für Gallensteine sein.  | Foto: Caritas-Klinik Dominikus

Wann ist eine OP sinnvoll?
Infos zu Gallensteinen und Hernien

Leiden Sie unter belastenden Gallensteinen oder Hernien (Eingeweidebruch) Langanhaltende Schmerzen begleiten viele Betroffene, unabhängig des Lebensalters, bevor sie ärztliche Hilfe in Anspruch nehmen. Eine frühzeitige Diagnose und Behandlung können jedoch häufig Komplikationen vermeiden. Wir sind auf die Behandlung dieser Probleme spezialisiert und bieten Ihnen erstklassige allgemein- und viszeralchirurgische Expertise. Von Diagnostik bis Nachsorge: Wir kümmern uns individuell um Ihre...

  • Reinickendorf
  • 17.04.24
  • 105× gelesen
Jobs und KarriereAnzeige
Foto: VEAN TATTOO
4 Bilder

Tattoo-Kurse
Ausbildung für Topberuf des letzten Jahrzehnts

Eine Frage, die immer aktuell ist, auch wenn man schon vor langer Zeit erwachsen ist. Sehr oft entscheiden wir uns aufgrund des sozialen Drucks für einen Beruf. Wie oft haben Sie sich gefragt, was aus Ihnen geworden wäre, wenn Sie auf sich selbst gehört hätten? VEAN TATTOO hat diese wichtige Frage vor zwölf Jahren ehrlich für sich selbst beantwortet und reicht daher ohne Zweifel allen, die über ihren ersten oder neuen Beruf nachdenken, eine helfende Hand. Es liegt an Ihnen, zu entscheiden,...

  • Mitte
  • 25.03.24
  • 1.455× gelesen
  • 1
add_content

Sie möchten selbst beitragen?

Melden Sie sich jetzt kostenlos an, um selbst mit eigenen Inhalten beizutragen.