100 Jahre Groß-Berlin
Historiker Henning Holsten über das Leben auf Pump, Robin Hoods und die Vorreiterrolle Neuköllns

Historiker Henning Holsten gilt als ausgewiesener Neukölln-Experte. Er bietet seit Jahren Führungen durch den Bezirk an und moderiert regelmäßig Veranstaltungen der Volkshochschule. | Foto: Schilp
  • Historiker Henning Holsten gilt als ausgewiesener Neukölln-Experte. Er bietet seit Jahren Führungen durch den Bezirk an und moderiert regelmäßig Veranstaltungen der Volkshochschule.
  • Foto: Schilp
  • hochgeladen von Susanne Schilp

Welche Reaktionen löste die Bildung Groß-Berlins in Neukölln aus und welche Folgen hatte sie? Unsere Reporterin Susanne Schilp sprach darüber mit dem Historiker Henning Holsten.

Herr Holsten, gab es politischen Widerstand gegen die Eingemeindung?

Nein, im Gegenteil. Neukölln hatte ein starkes Interesse daran, denn es profitierte in vielerlei Hinsicht. Neukölln war die ärmste Großstadt Preußens, was die Steuereinnahmen betrifft. Während sich etwa Charlottenburg als reichste Stadt viel höhere Ausgaben leisten konnte, musste Neukölln die drängendsten Aufgaben auf Pump finanzieren. Bis 1920 hatte die Stadt deshalb einen enormen Schuldenberg angehäuft, der ist dann sozusagen in Groß-Berlin aufgegangen.

Wie ist es zu diesen Schulden gekommen?

Das war damals eine finstere und bittere Zeit. Im Ersten Weltkrieg brach die Lebensmittelversorgung zusammen. Krieg und Hunger trieben Leute in den Wahnsinn, Menschen stürzten sich aus dem Fenster, das Rathaus wurde mehrfach gestürmt und der Bürgermeister in seinem Amtszimmer verprügelt. Der Stadt blieb nichts anderes übrig, als Kredite aufzunehmen.

Wurde das nach Kriegsende nicht allmählich besser?

Allmählich. Noch Anfang der Zwanzigerjahre kam es immer wieder zu Hungerkrawallen und Plünderungen bewaffneter kommunistischer Banden. Solche Aktionen selbsternannter Robin Hoods wurden im Sommer 1920 provoziert durch einen politisch motivierten Boykott Brandenburger Landwirte, die sich weigerten, dem „roten Neukölln“ Lebensmittel zu liefern.

War die Situation in Neukölln besonders extrem?

Zumindest in den Mietskasernen. Das Rollbergviertel war schon im Kaiserreich eines der größten Elendsquartiere Groß-Berlins. Die Menschen lebten dicht an dicht gestapelt. Erwachsene Schlafburschen lagen neben Kindern. Es kam zu sexuellen Übergriffen, Mord und Totschlag.

Kommen wir zurück zur Eingemeindung. Bangte Neukölln nicht um seine Identität?

Weniger, denn es gab ja keine stolze Städtetradition wie etwa in Spandau oder Köpenick. Rixdorf, wie Neukölln bis 1912 hieß, wuchs erst während der Kaiserzeit vom Dorf zur Großstadt und bekam spät, nämlich 1899, das Stadtrecht.

Traum vom roten Berlin

Aber noch eine andere Sache ist wesentlich: Neukölln war nach der Revolution 1918/19 tiefrot, mit Bürgermeister Alfred Scholz an der Spitze. Und es waren die Sozialdemokraten, die zusammen mit dem demokratischen Bürgertum die Bildung Groß-Berlins vorantrieben. Der Albtraum des Kaisers, ein „rotes“ Groß-Berlin, war das politische Projekt der Linken. Und die fuhren in Neukölln schon seit der Jahrhundertwende Wahlergebnisse von über 80 Prozent ein.

Können Sie ein Beispiel dafür nennen, wie Neukölln von der Zusammenlegung profitiert hat?

Nehmen wir die Hufeisensiedlung, die ab 1925 gebaut wurde, ein Projekt gewerkschaftseigener Unternehmen. Groß-Berlin machte es möglich, Stadtplanung im großen Maßstab zu denken, es gab neue Finanzierungsmöglichkeiten, die Stadt kaufte das Rittergut Britz und stellte günstiges Bauland zur Verfügung. In dem kleinen Zeitfenster zwischen 1924 und 1930, zwischen Inflation und Weltwirtschaftskrise, ist erstaunlich viel geschaffen worden. Neukölln war ganz vorne dabei, auch in anderen Bereichen.

In welchen?

Beispielsweise in der Bildung. Die Weimarer Republik ist die Zeit der großen Schulreformen – die in Neukölln schon 1919 bis 1921 vom bürgerlichen Stadtschulrat Artur Buchenau eingeleitet wurden. Er setzte sich für die ersten nicht-konfessionellen Schulen ein. Später radikalisierten Kurt Löwenstein und Fritz Karsen diese Reformen dann im sozialistischen Sinne. Sie begründeten damit eine Tradition, die bis heute fortwirkt.

War Neukölln also ein Vorreiter bei der Bildung Groß-Berlins?

In gewisser Weise wurde hier die Gründung der Einheitsgemeinde sogar vorweggenommen. Im Oktober 1918 stimmten die Neuköllner Stadtverordneten für die Eingemeindung von Britz. Stadt und Gemeinde wollten sich vereinigen, um Versorgungs- und Verkehrsprobleme besser lösen zu können. Die Novemberrevolution nahm das Projekt zunächst von der Tagesordnung. 1920 ging Britz dann zusammen mit Rudow und Buckow im neuen Stadtbezirk Neukölln auf.

Autor:

Susanne Schilp aus Neukölln

following

Sie möchten diesem Profil folgen?

Verpassen Sie nicht die neuesten Inhalte von diesem Profil: Melden Sie sich an, um neuen Inhalten von Profilen und Orten in Ihrem persönlichen Feed zu folgen.

29 folgen diesem Profil

Kommentare

online discussion

Sie möchten kommentieren?

Sie möchten zur Diskussion beitragen? Melden Sie sich an, um Kommentare zu verfassen.

Beitragsempfehlungen

WirtschaftAnzeige
Für weitere rund 180.000 Haushalte in Berlin baut die Telekom Glasfaserleitungen aus. | Foto: Telekom

Telekom baut Netz aus
Glasfaser-Internet hier im Bezirk

Ab Dezember starten die Arbeiten zum Ausbau des hochmodernen Glasfaser-Netzes in Borsigwalde, Friedenau, Frohnau, Hakenfelde, Lichtenrade, Lübars, Mariendorf, Neu-Tempelhof, Reinickendorf, Schöneberg, Spandau, Tegel, Waidmannslust, Wilhelmstadt und Wittenau. Damit können weitere rund 180.000 Haushalte und Unternehmen in Berlin einen direkten Glasfaser-Anschluss bis in die Wohn- oder Geschäftsräume erhalten. Die Verlegung der Anschlüsse wird im Auftrag der Telekom durchgeführt. Bis 2030 plant...

  • Borsigwalde
  • 11.12.24
  • 687× gelesen
WirtschaftAnzeige
JRB DER HEIMWERKER hat alles, was Ihr Weihnachtsfest schöner macht. | Foto: JRB DER HEIMWERKER

JRB DER HEIMWERKER
Alles für Advent und Weihnachten

JRB DER HEIMWERKER hat ein stimmungsvolles und umfangreiches Angebot im Weihnachtsmarkt für Sie, liebe Kunden, zusammengestellt. Im EG. und 1. OG, das Sie bequem mit Rolltreppe oder Aufzug erreichen können, erwartet Sie eine große Auswahl an Weihnachtsdekoration. Christbaumkugeln und Spitzen in vielen Farben und Formen sowie viele Deko-Artikel, Figuren sind in großer Auswahl vorhanden. Das wichtigste ist ein guter Weihnachtsbaumständer und natürlich die Beleuchtung. Wir führen Lichterketten,...

  • Köpenick
  • 27.11.24
  • 748× gelesen
WirtschaftAnzeige
Einstiegstüren machen Baden und Duschen komfortabler. | Foto: AdobeStock

GleichWerk GmbH
Seniorengerechte Bäder und Duschen

Seit März vergangenen Jahres ist die Firma GleichWerk GmbH in Kremmen der richtige Partner an Ihrer Seite, wenn es um den Innenausbau Ihres Hauses oder Ihrer Wohnung geht. Darüber hinaus bietet das Unternehmen auch seine Dienste für Hausverwaltungen an. Geschäftsführender Inhaber des Fachbetriebs ist Dennis Garte, der nach jahrelanger Berufserfahrung den Schritt in die Selbstständigkeit wagte, wobei er über ein großes Netzwerk an Kooperationspartnern sowie angesehenen Handwerksfirmen verfügt....

  • Umland Nord
  • 04.12.24
  • 424× gelesen
WirtschaftAnzeige
Für weitere rund 42.500 Haushalte in Berlin baut die Telekom Glasfaserleitungen aus. | Foto: Telekom

Telekom vernetzt
Glasfaser-Internet hier im Bezirk

Aktuell laufen die Arbeiten zum Ausbau des hochmodernen Glasfaser-Netzes in Berlin auf Hochtouren. Neue Arbeiten starten nun auch in Frohnau, Hakenfelde, Lichtenrade und Mariendorf. Damit können weitere rund 42.500 Haushalte und Unternehmen einen direkten Glasfaser-Anschluss bis in die Wohn- oder Geschäftsräume erhalten. Die Verlegung der Anschlüsse wird im Auftrag der Telekom durchgeführt. Bis 2023 plant die Telekom insgesamt zwei Millionen Anschlüsse in Berlin zu ermöglichen. Schnell sein...

  • Frohnau
  • 11.12.24
  • 880× gelesen
KulturAnzeige
Blick in die Ausstellung über den Palast der Republik. | Foto: David von Becker
2 Bilder

Geschichte zum Anfassen
Die Ausstellung "Hin und weg" im Humboldt Forum

Im Humboldt Forum wird seit Mai die Sonderausstellung „Hin und weg. Der Palast der Republik ist Gegenwart“ gezeigt. Auf rund 1.300 Quadratmetern erwacht die Geschichte des berühmten Palastes der Republik zum Leben – von seiner Errichtung in den 1970er-Jahren bis zu seinem Abriss 2008. Objekte aus dem Palast, wie Fragmente der Skulptur „Gläserne Blume“, das Gemälde „Die Rote Fahne“ von Willi Sitte, Zeichnungen und Fotos erzählen von der damaligen Zeit. Zahlreiche Audio- und Videointerviews geben...

  • Mitte
  • 08.11.24
  • 1.813× gelesen
add_content

Sie möchten selbst beitragen?

Melden Sie sich jetzt kostenlos an, um selbst mit eigenen Inhalten beizutragen.