Pathologe mit 96
„Es gab keine zwei Schützen und auch keine Verschwörung“

Der renommierte Pathologe Werner Spitz über seinen wohl prominentesten Kriminalfall: der Mord an John F. Kennedy. Heute feiert der ehemalige Berliner seinen 96. Geburtstag.

St. Clair Shores, Michigan/Berlin. Der 96-jährige Werner Spitz zählt zu den Gründervätern der modernen forensischen Pathologie und gilt als Koryphäe auf seinem Gebiet. Im Laufe seiner über 65-jährigen Karriere führte der renommierte Mediziner Tausende von Autopsien durch und wurde zu verschiedenen hochkarätigen Fällen als Experte hinzugezogen. Gefragt war seine Expertise auch Mitte der Siebzigerjahr, als er im Auftrag des US-Senats die am Präsidenten John F. Kennedy 1963 durchgeführte Autopsie anhand von Bildern überprüfte. Doch der Reihe nach.

Medical Detective aus Deutschland

Der aus einer jüdischen Familie stammende Werner Uri Spitz wurde am 22. August 1926 in Stargard in Pommern, damals Deutschland (heute Polen), geboren. Seine Eltern: das Ärzteehepaar Anna Judith und Siegfried Spitz. 1933 verließ die Familie wegen des zunehmenden Antisemitismus und der drohenden Gefahr Deutschland und emigrierte nach Palästina. An die Flucht als Siebenjähriger erinnert sich Werner Spitz heute noch: „Meine Familie hat mich aus Stargard in Pommern herausgenommen und nach Paris zu meiner Tante und ihrer Familie gebracht, damit ich den Abschied von meiner gewohnten Umgebung und meinen Freunden nicht miterleben muss. Im Dezember 1933 kamen sie dann nach Paris, holten mich ab und brachten mich nach Marseille, um auf ein Schiff nach Palästina zu gelangen“, sagt Spitz unserer Zeitung auf Nachfrage.
1946 trat Spitz in die Fußstapfen seiner Eltern und studierte Medizin an der Universität in Genf. Vier Jahre später wechselte er an die Hebrew University Hadassah Medical School, die medizinische Fakultät der Hebräischen Universität, in Jerusalem, wo er 1953 promovierte. Bis 1959 arbeitete er am Leopold Greenberg Institute of legal Medicine, dem Nationalen Zentrum für Forensische Medizin im Stadtteil Abu Kabir in Tel Aviv. Es ist die einzige Einrichtung in Israel, der es erlaubt ist, in unnatürlichen Todesfällen Obduktionen durchzuführen. Seine berufliche Zukunft sah Spitz indes in den USA. „In Maryland gab es viele Morde und in Israel habe ich in sieben Jahren einen Mordfall untersucht“, wie Spitz sagt. 1959 fand Spitz eine Anstellung am Medical Examiner’s Office in Baltimore im US-Bundesstaat Maryland.

„Ich genoss jeden Tag in Berlin“
Weil er sich zunächst gegen ein Einwanderungsvisum und für ein Besuchervisum entschied, musste Spitz für zwei Jahre in sein Herkunftsland Deutschland zurückkehren, wo er von 1961 bis 1963 lebte und an der Freien Universität Berlin am Institut für Rechtsmedizin in Berlin-Dahlem unter Professor Krauland arbeitete. „Ich genoss jeden Tag in Berlin“, erinnert sich der dreifache Familienvater an seine ehemalige Heimat, wo seine Tochter Rhona am 25. Januar 1963 zur Welt kam. Seine beiden Söhne sind Daniel Spitz, der wie sein Vater als Pathologe arbeitet, und der Chirurg Jonathan Spitz.
1963 erlebte Spitz, wie viele Berliner, einen historischen Moment: „Von meinem Fenster im Büro in der Hittorfstraße in Dahlem aus hörte ich, wie Präsident Kennedy zu einer riesigen Menschenmenge sprach und dabei sagte: ‚Ich bin ein Berliner.‘ Er erhielt den lautesten und liebevollsten Beifall von zwei Millionen Menschen“, erinnert sich Spitz an jene berühmt gewordenen Worte, die John F. Kennedy am 26. Juni vor dem Rathaus Schöneberg in West-Berlin anlässlich des 15. Jahrestages der Berliner Luftbrücke sagte.

1963 verließ Spitz Deutschland, um an seine alte Wirkungsstätte in Maryland zurückzukehren. „Ich erreichte den Hafen von New York einen Tag nach der Ermordung des Präsidenten John F. Kennedy“, erinnert sich Spitz, der damals nicht ahnte, dass dieser Fall zu einem seiner wohl prominentesten werden wird. „Damals wusste ich nicht, dass meine Rolle bei der Zeugenaussage vor dem US-Repräsentantenhaus über dieses Attentat wirklich geschah“, sagt Spitz. Am 22. November 1963 wurde US-Präsident John F. Kennedy, der sich gerade auf Wahlkampfreise in Dallas befand, während einer Fahrt im offenen Wagen durch die Innenstadt der texanischen Metropole erschossen. Die Schüsse von Dallas sorgten weltweit für Schlagzeilen und lieferten Stoff für Verschwörungstheorien darüber, wer John F. Kennedy getötet hat, wie viele Schützen es gab, von wie vielen Kugeln er getroffen wurde und wer hinter dem Attentat steckt.

Ein Fall, der die Geschichte verändert
1976 beauftrage der US-Senat Spitz, die Todesumstände zu untersuchen, unter denen US-Präsidenten Kennedy erschossen wurde. „Präsident Kennedys Wunde am Hals war eine Austrittswunde, keine Eintrittswunde. Eine Eintrittswunde hätte bedeutet, dass er von vorne und von hinten erschossen wurde, aber es gab keine zwei Schützen und auch keine Verschwörung“, erklärt Spitz unserer Zeitung sein Untersuchungsergebnis als damals aufstrebender forensischer Pathologe. „Dr. Hume, ein erstklassiger Krankenhauspathologe, aber kein forensischer Pathologe, nannte es eine Eintrittswunde. Dies war sein erster Fall mit einer Schusswaffe. Er war sich nicht bewusst, dass eine Eintrittswunde unter Umständen einer Austrittswunde ähneln kann“, so Spitz weiter.
Damals habe die forensische Pathologie in den USA noch in den Kinderschuhen gesteckt, sagt Spitz, dessen Expertise seit seiner Rekonstruktion des Attentats auf John F. Kennedys regelmäßig in Fällen gefragt gewesen sei, die in den Nachrichten große Beachtung fanden: So der Fall Martin Luther King Jr., Mary Jo Kopechne (Ted Kennedy), „Night Stalker“ Ramirez Richard, O. J. Simpson, Jon Benet Ramsey, Phil Spector, Michael Peterson. Und und und.
Als Sachverständiger zu sehen war der renommierte Mediziner Spitz auch in TV-Doku-Serien wie „Autopsie – Mysteriöse Todesfälle“, die seit 2001 im deutschen Fernsehen ausgestrahlt wird.

In seiner über sechs Jahrzehnte währenden Karriere führte Spitz mehr als 60 000 Autopsien durch. Was ihn an seiner Arbeit fasziniere, sei die Lösung von Problemen auf der Grundlage der Medizin, wie er sagt. Seine Lehrbücher zählen zur Standardliteratur des Faches. 2020 erschien die 5. Auflage seines Lehrbuchs „Medicolegal Investigation of Death“, in dem auch der Fall Kennedy behandelt wer-de. Zurzeit schreibe er an einem neuen Buch, das er fertigstellen müsse und in dem es um Schmerzensgeldforderungen gehe.

Von Pensionierung keine Rede
„Ich könnte ein Buch mit Geschichten über die Ereignisse füllen, die sich in den zwei Jahren und drei Monaten ereigneten, die ich in Berlin verbrachte, als ich versuchte, Bürger der Vereinigten Staaten zu werden“, sagt Spitz, der noch immer fließend Deutsch spricht. Ob er schon mal über eine Autobiografie nachgedacht habe? „Viele Leute haben mich nach einer Autobiografie gefragt, aber dafür brauche ich viel Zeit, die ich im Moment nicht habe, aber es steht auf meiner ‘Bucket List‘“, er-klärt Spitz, der heute noch immer in Vollzeit als Berater arbeite.
Was er an seinem Geburtstag mache? „Ihre Frage veranlasst mich, Ihnen mitzuteilen, dass ich mir vielleicht den Tag frei nehmen werde. Wenn man diese Art von Beruf ausübt, den ich nun schon seit 65 Jahren ausübe, braucht man ein wenig Unterhaltung, und ich werde diese Möglichkeit für den kommenden 22. August in Betracht ziehen.“

Autor:

Markus Vögele aus Steglitz-Zehlendorf

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