Viel Nachholbedarf bei Barrierefreiheit
Stephan Heinke ist blind und berichtet von seinem Alltag in Berlin

Manchmal muss Stephan Heinke andere um Hilfe bitten, wenn er unterwegs ist, zum Beispiel, wenn Baustellen seine gewohnten Wege blockieren. | Foto: Philipp Hartmann
  • Manchmal muss Stephan Heinke andere um Hilfe bitten, wenn er unterwegs ist, zum Beispiel, wenn Baustellen seine gewohnten Wege blockieren.
  • Foto: Philipp Hartmann
  • hochgeladen von Philipp Hartmann

Elf Jahre alt sei er gewesen, als sich seine Sehkraft zu verschlechtern begann, erinnert sich Stephan Heinke. Wegen einer Netzhauterkrankung verlor er innerhalb weniger Jahre sein Augenlicht. Wer es selbst nicht erlebt hat, kann nur spekulieren, wie schwer es sein muss, mit einem solchen Einschnitt zurechtzukommen. Stephan Heinke erzählt jedoch eher nüchtern von seiner Vergangenheit.

Als Kind und Jugendlicher sei es für ihn nicht so schwierig gewesen, dieses Schicksal zu akzeptieren. „Das Gehirn versucht, das auszugleichen. Es ist eine Art Verdrängung, Nicht-Beachten“, erklärt er. Über sein Leben sagt der heute 40-Jährige: „Es hätte sicherlich besser laufen können.“ Dennoch wirkt er alles andere als unzufrieden. Regelmäßig besucht er einen Aikido-Kurs, eine japanische Kampfkunst. Er mag Musik, Netflix, Hörbücher und Podcasts. Mit Freunden trifft er sich gern zu Spieleabenden oder zum Tanzen. Außerdem geht er oft ins Kino und ist Fan von Borussia Dortmund. Beim Derby gegen Schalke war er einmal sogar im Stadion. Damit Blinde dem Geschehen auf dem Rasen folgen können, bieten Fußballklubs Audiodeskription an. Diesen Service gibt es laut Stephan Heinke inzwischen auch bei Aufführungen in verschiedenen Theatern und Opern in Berlin. Ein speziell ausgebildeter Sprecher schildert dabei detailliert das Geschehen auf der Bühne.

Die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben ist für Sehbehinderte und Blinde dadurch leichter geworden. Der technische Fortschritt hat zudem die Kommunikation vereinfacht. „Viele Blinde haben heute ein Smartphone. Dass ein Touchscreen für uns nutzbar ist, war vor zehn Jahren noch nicht vorstellbar.“ Wenn er seinen Zeigefinger über das Display seines Handys führt, hilft eine elektronische Stimme bei der Navigation. Sie liest auch die Buchstaben vor, wenn Stephan Heinke Nachrichten schreibt. Den Bildschirm hat er dauerhaft schwarz gestellt. „So hält der Akku länger und die Leute in der Bahn können nicht mitlesen.“ In seiner Wohnung hilft Sprachassistent „Alexa“. E-Mails lässt er sich mithilfe einer Software vorlesen. Beruflich kümmert sich Heinke, der Kommunikationswissenschaft studiert hat, selbst darum, Blinden den Alltag zu erleichtern. Als freiberuflicher Accessibility Consultant, zu Deutsch Berater für Barrierefreiheit, führt er Smartphone-Schulungen durch, erstellt gemeinsam mit einem sehenden Kollegen Audiodeskription für Serien und Filme und arbeitet an Apps und Internetseiten, die an die Bedürfnisse von Blinden angepasst sind. Das seit November im Haus der Gesundheit und Familie in Mariendorf erstmals in einer Behörde eingesetzte System „everGuide“, das Menschen mit Behinderung zum gewünschten Raum navigiert, ist für ihn ein „wichtiger Schritt“.

Aufs Hören angewiesen

Trotz dieser positiven Entwicklungen macht Stephan Heinke auch viele negative Erfahrungen. Hinsichtlich der baulichen Barrierefreiheit sieht er in Deutschland viel Nachholbedarf. An etlichen Bahnhöfen seien die Blindenleitsysteme „unterirdisch“. Nur zwei von drei Ampeln in Berlin seien mit akustischen Signalen ausgestattet. An den restlichen müsse er sich allein auf sein Gehör verlassen. Manchmal gehe auch der Ton bereits nach wenigen Sekunden wieder aus, während er sich noch mitten auf der Straße befindet. Dadurch könne er in „höchstgefährliche Situationen“ geraten. Sein Blindenstock sei schon mal überfahren worden. Schwer machen es ihm außerdem Radfahrer auf dem Gehweg und seit Sommer auch noch die E-Scooter. Darüber hinaus ärgert er sich über die Menschen. „Es kommt selten vor, dass Leute fragen, ob sie mir helfen können. Stattdessen erlebe ich oft, dass mir Hilfe aufgedrängt wird, wo es gar nicht erforderlich wäre. Ich bin schon bei Grün über die Straße geschoben worden, obwohl ich gar nicht in die Richtung wollte.“ Immer wieder bekomme er auch „dumme Kommentare“ zu hören. Neulich habe eine Frau zu ihm gesagt, er hätte mit seinem Stock ein Kind geschlagen. „Was soll ich denn machen? Das ist nun mal mein Hilfsmittel.“

Stephan Heinke hat sich an all das gewöhnt. Dennoch sagt er: „Natürlich würde ich gerne wieder sehen können.“ Er ist sicher, dass er es eines Tages auch wieder können wird. Gentechnik, Netzhautchips und Netzhauttransplantationen machen ihm Hoffnung. „Ich bin überzeugt, dass ich nicht blind von dieser Welt gehe.“

Autor:

Philipp Hartmann aus Köpenick

following

Sie möchten diesem Profil folgen?

Verpassen Sie nicht die neuesten Inhalte von diesem Profil: Melden Sie sich an, um neuen Inhalten von Profilen und Orten in Ihrem persönlichen Feed zu folgen.

48 folgen diesem Profil

Kommentare

online discussion

Sie möchten kommentieren?

Sie möchten zur Diskussion beitragen? Melden Sie sich an, um Kommentare zu verfassen.

Beitragsempfehlungen

WirtschaftAnzeige
Foto: pexels/Giulia Freitas
5 Bilder

Mode oder mehr?
Piercing. Von alten Ritualen bis zu moderner Kunst

Ist das Modeakzent oder kulturelles Erbe? Auf jeden Fall ist Piercing die beliebteste und gefragteste Körpermodifikation der Welt, die sowohl persönliche Vorlieben und Modetrends als auch tiefe kulturelle Traditionen widerspiegelt. Was ein modisches Piercing heute ist und wie es sich im Laufe der Zeit verändert hat, erfahren wir zusammen mit VEAN TATTOO in diesem Artikel. Eine der beliebtesten Arten von Piercings ist das Ohrlochstechen. Ein Klassiker aller Zeiten, ist das wirklich so und woher...

  • Mitte
  • 17.04.24
  • 171× gelesen
Gesundheit und MedizinAnzeige
Wenn auch Sie mehr über Ihre Schulterbeschwerden erfahren möchten und sich über mögliche Behandlungsansätze informieren möchten, kommen Sie zum Informationsabend am 23. Mai. | Foto: B. BOISSONNET / BSIP

Wir informieren Sie
Schmerzen in der Schulter – Ursachen und Behandlungen

Schmerzen in der Schulter können vielfältige Ursachen haben – sei es durch Unfälle oder Verschleißerscheinungen. Diese Ursachen können die Beweglichkeit beeinträchtigen und die Lebensqualität stark einschränken. Unsere Experten, Dr. med. Louise Thieme und Robert Tischner, Teamchefärzte des Caritas Schulter- und Sportorthopädiezentrums, werden bei unserem Informationsabend speziell auf die Problematik von Schulterbeschwerden eingehen – vom Riss der Rotatorenmanschette bis zur Arthrose. Sie...

  • Pankow
  • 18.04.24
  • 124× gelesen
Gesundheit und MedizinAnzeige
Langanhaltende Schmerzen können ein Anzeichen für Gallensteine sein.  | Foto: Caritas-Klinik Dominikus

Wann ist eine OP sinnvoll?
Infos zu Gallensteinen und Hernien

Leiden Sie unter belastenden Gallensteinen oder Hernien (Eingeweidebruch) Langanhaltende Schmerzen begleiten viele Betroffene, unabhängig des Lebensalters, bevor sie ärztliche Hilfe in Anspruch nehmen. Eine frühzeitige Diagnose und Behandlung können jedoch häufig Komplikationen vermeiden. Wir sind auf die Behandlung dieser Probleme spezialisiert und bieten Ihnen erstklassige allgemein- und viszeralchirurgische Expertise. Von Diagnostik bis Nachsorge: Wir kümmern uns individuell um Ihre...

  • Reinickendorf
  • 17.04.24
  • 178× gelesen
Jobs und KarriereAnzeige
Foto: VEAN TATTOO
4 Bilder

Tattoo-Kurse
Ausbildung für Topberuf des letzten Jahrzehnts

Eine Frage, die immer aktuell ist, auch wenn man schon vor langer Zeit erwachsen ist. Sehr oft entscheiden wir uns aufgrund des sozialen Drucks für einen Beruf. Wie oft haben Sie sich gefragt, was aus Ihnen geworden wäre, wenn Sie auf sich selbst gehört hätten? VEAN TATTOO hat diese wichtige Frage vor zwölf Jahren ehrlich für sich selbst beantwortet und reicht daher ohne Zweifel allen, die über ihren ersten oder neuen Beruf nachdenken, eine helfende Hand. Es liegt an Ihnen, zu entscheiden,...

  • Mitte
  • 25.03.24
  • 1.517× gelesen
  • 1
add_content

Sie möchten selbst beitragen?

Melden Sie sich jetzt kostenlos an, um selbst mit eigenen Inhalten beizutragen.