"Unser Kiez": Am Bundesplatz entwerfen Bürger die Stadt von morgen

Ideengeber: Wolfgang Severin (r.), Sabine Pentrop (2.v.r.) und ihre Mitstreiter von der Initiative Bundesplatz meisterten das Projekt im Rahmen des Bundeswettbewerbs Zukunftsstadt. | Foto: Thomas Schubert
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Wilmersdorf. Im Süden rauscht die Autobahn, das von Straßen eingezwängte Herz des Kiezes hat ein Tunnel durchstochen. Taugt dieser Ort zum städtischen Paradies? Die Initiative Bundesplatz glaubt daran. Und in den kommenden Ausgaben berichtet die Berliner Woche aus einem Viertel, in dem ehrenamtlich Engagierte das Morgen leben. Teil 1: Vision und Wirklichkeit.

Bremslichter über Bremslichter, aufleuchtende Blinker, ratlose Blicke, Der Bundesplatz: eine Sackgasse. Vollsperrung. Stau. Kein Durchkommen für alle, die ihr Umfeld zumeist durch Windschutzscheiben sehen. Für sie heißt es: umkehren, ausweichen – oder aussteigen. Es ist der Tag, an dem Wolfgang Severin und seine Initiative an einem Ort, den sie als Zentrum ihres Kiezes empfinden, im Kleinen die Berliner Zukunft erproben. Schuhsohlen oder Fahrradreifen sind das einzige Gummi auf den Straßen. Und der motorisierte Verkehr? Er muss sich eben andere Wege suchen.

Mag der Bundesplatz an 364 Tagen im Jahr eine von Straßen umschlungene, untertunnelte Scholle sein. An diesem Sonntag im Oktober ist er ein Paradies. Und die Autofahrer, sie sind die Vertriebenen – als kleine Revanche dafür, dass dieses Schicksal ansonsten die Passanten ereilt.

„Ein geschundener Ort“, das war der Bundesplatz, als sich vor etwa fünf Jahren die neue Initiative aus Anwohnern seiner erbarmte. Von „Berlins größte Freiluft-Toillette“ spricht Severin, der erste Vorsitzende, heute, wenn er sich den früheren Zustand vor Augen führt. Und als die Bürger begannen, mit Putz- und Pflanzaktionen den Platz für sich einzunehmen, da hätten wohl nur die wenigsten Entscheider geglaubt, dass diese Initiative den Bezirk mit ihren Umgestaltungsideen in den Bundeswettbewerb „Zukunftsstadt“ führen würde.

In Vorleistung treten, selbst denken, selbst handeln – so gewann die Initiative Bundesplatz alle Bezirkspolitiker für ihre Ideen von einem verkehrsberuhigten Verweilort, der im krassen Gegensatz steht zur einstigen Trinker- und Pinkelecke. Nun also hat man mit der Umsetzung des autofreien Tages bei der Aktion „Paradies Bundesplatz“ auch die Landespolitiker ihrer Zweifel beraubt. Als Schirmherr grüßt Stadtentwicklungssenator Andreas Geisel. Und durch ihre Sympathien mit den Bürgern verbunden, sitzen nun die Wahlkreiskandidaten für 2016 beieinander. Sie glauben mehr oder weniger alle an eine Berliner Wirklichkeit, die nah dran sein wird an der hiesigen Vision.

„Es gibt kein Entweder-Oder, sondern ein Sowohl-als-auch.“ So sieht Franziska Becker als Abgeordnete der SPD die Marschroute für die von Bürgern getragene Verwandlung. Auch wenn die Politik nur „schwerfällig“ auf Wünsche zur Gestaltung einer menschengerechteren Stadt reagiert, könne man zwei entscheidende Punkte bald abhaken. Eine Querungshilfen zum Bundesplatz und ein Tempo 30-Limit – beides kommt in Kürze. Dass Radfahrer künftig eine bedeutendere Rolle spielen sollen, davon ist Grünen-Politiker Alexander Kaas-Elias überzeugt. Warum sollte Wilmersdorf nicht Anschluss schaffen an die Lebenswirklichkeit in Münster oder Kopenhagen? Klar, dass dies ohne „erhebliche Zielkonflikte“ nicht abgehen wird, meint Stefan Evers, Stadtentwicklungsexperte der CDU. Fahrradhighways könnten eine Lösung sein. Es brauche vorausschauendes Planen bei „einer Operation am offenen Herzen der Stadt“.

Abseits dieser Diskussion geben Bürger ihre Stimmen ab für ganz konkrete Ideen. Und zwar indem sie auf Plakaten farbige Sticker hinter die Vorschläge kleben. „Es haben sich so viele beteiligt, dass wir weitere Sticker nachkaufen mussten“, erklärt Sabine Pentrop als Sprecherin der Initiative Bundesplatz den Erfolg. Besonders viele Farbtupfer an den Tafeln leuchten hinter den bekanntesten Forderungen: Den Autotunnel unter dem Platz zuschütten, das möchte eine große Mehrheit der befragten Bürger. Andere begeistern sich für den Gedanken, eine Straßenbahn hindurchfahren zu lassen. Und als kostensparende Lösung hört man den Vorschlag einer findigen Frau: „Ein Tarnnetz über die Tunneleinfahrt werfen.“ Auch so nähert man sich dem Paradies, rückt voran von der Vision zur Wirklichkeit.

Wie wird es weitergehen mit dem Bundesplatz? Welche Utopien lassen sich wirklich realisieren an diesem Ort, wo Spielhallen neben Goldschmieden bestehen, stolze Gründerzeit-Häuser neben Nachkriegsblöcken und Hipster neben Rentnern? Wo die „Paradies“-Aktion zustande kam, da scheint jetzt alles möglich. Am Bundesplatz können Visionäre Realisten sein. tsc

Autor:

Thomas Schubert aus Charlottenburg

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