Critical Mass



Critical Mass ist eine Veranstaltung, auf der Tausende von Fahrradfahrern zweimal im Monat zusammenkommen, um gemeinsam ein paar Stunden kreuz und quer durch Berlin zu fahren.

Sie findet jeweils am letzten Freitag und am ersten Sonntag eines Monats statt, jetzt schon im zwanzigsten Jahr. Ausgangspunkt am Sonntag ist das Brandenburger Tor um 14.00 Uhr; freitags trifft man sich 20.00 Uhr auf dem Mariannenplatz in Kreuzberg. Und das sieht dann so aus: Tausende von Fahrrädern belagern den Platz, ergießen sich in die Seitenstraßen wie eine große, wogende Welle, die sich den ganzen Raum der Straße, des Trottoirs nimmt, des Rasens vor dem ehemaligen Kunsthaus Bethanien. Unaufgeregt die Gesichter, die freudig ein Gemeinschaftserlebnis erwarten, mit dem sie kundtun wollen, dass die Stadt auch ihnen gehört und die Straßen, die einst für Autos gemacht. Viele in Radlerkleidung mit Helm und Fahrradshorts und in beinahe jeder Altersgeneration - vom sechsjährigen Jungen, den die Mutti mitgebracht hat, bis zum Renter, der sich nicht scheut, ein paar für ihn anstrengende Stunden für das zu radeln, was er für gut und vernünftig hält: die Stadt als Ort für die gesündeste und ressourcenschonendste Fortbewegungsart zu reklamieren. Am stärksten vertreten die Generation der 20 bis 40-Jährigen, die es schon lange aufgegeben hat, das Auto als Statussymbol zu betrachten und mit dessen Kauf viel hart erarbeitetes Geld zu verbrennen. Es ist eine Generation, die klüger ist als ihre Eltern und weiß, dass die Mobilität der Zukunft - der ihrigen und der ihrer Kinder - nicht mehr den tonnenschweren, verschwenderischen Abgasemittenden gehört, die nicht nur unsere Straßen verstopfen und verschmutzen, sondern auch unser Denken über individuelle Freiheit und Fortschritt jahrzehntelang okkupiert hatten: Das Auto mit Verbrennungsmotor, so wissen sie, ist ein Auslaufmodell, es ist an der Zeit zum Wechsel!
Auf dem Mariannenplatz regt sich etwas, an irgendeiner Stelle wird losgefahren. Vorsichtig und stets rücksichtsvoll wird gefolgt, sich eingereiht in den Korso von Trekking- und Cityrad, Rennrad und Mountainbike, Tandem und Lastenrad. Einige von ihnen sind “Marke Eigenbau” mit einem Vorbau für Speisen und Getränke, mit einer Stangenhaltung für eine Fahne, mit einem kleinen Hundekorb, mit Anhänger für die Kinderchen und, vor allem, mit Halterungen für Lautsprecherboxen, aus denen die ganze Zeit über Musik ertönt, die das Radeln angenehm, leicht, beschwinglich macht. Man kann, wie vor der heimischen Stereoanlage, wählen, auf welche Musik man gerade Lust hat. Auf Rock und Pop, Techno, Ambient, Oldies, Heavy Metal - für jeden Geschmack etwas dabei. Dann bleibt man dicht beim Fahrradboxenmann/frau, radelt im Takt der Musik, bis man genug hat und in die Stille des kilometerlang sich erstreckenden Pelotons abtaucht.
Heute geht es durch Neukölln, zum Tempelhofer Feld, durch Schöneberg, nach Tiergarten zum Großen Stern, über Mitte nach Prenzlauer Berg, via Pankow in den Wedding hinein … Weiter, immer weiter in einer endlos funkelnden Girlande leuchtender Fahrradlampen, schwatzender Kurbeltreter, hinein in das glühende Abendrot und später in die kühle Nacht, abgeklatscht von italienischen Touristen am Brandenburger Tor, dem fragenden Zuruf, was das denn hier für eine Demo sei, dem Staunen derjenigen, die über die schiere Zahl endlos daherströmender Fahrräder arg verwundert sind, dem zwanglosen Einreihen von auswärtigen Stadterkundungsfahrern, die mit “Rent a Bike” unterwegs sind; den von Überraschung und Freude gekennzeichneten Ermunterungen und Anfeuerungen vom Straßenrand, hie und da ein Feeling wie auf einer großen Tour. Aber - und leider immer wieder auf’s Neue - der Unmut, die Aggression, die Beschimpfungen der Autofahrer, die in den Abzweigungen und Seitenstraßen viele Ampelschaltungen lang warten müssen, warten bis unser schier endloser Tross endlich vorbei ist. Mit einer “kritischen Masse” verhält es sich nämlich so: Wird eine bestimmte Quantität an Fahrradfahrern erreicht, laut Gesetz 15, dann darf diese, wenn sie im geschlossenen Verbund fährt (also eng hintereinander), auch dann weiter über die Kreuzung fahren, wenn die Ampel bereits auf Rot umgeschaltet hat. Alle anderen Verkehrsteilnehmer müssen warten. Das ruft den Zorn vieler Autofahrer hervor. In Neukölln beispielsweise wurde uns von einem dieser, der lange in einer Seitenstraße warten musste, laut hinterhergerufen: “Ich wünsche euch, dass ihr alle heute Abend noch überfahren werdet!” Ich hörte ihn nicht nur, ich sah ihn auch. Und ich kenne ihn. Sein Name ist Ali-Ahmad, er ist zwischen 20 und 50 Jahre alt, fährt ausschließlich einen PS-starken Oberklassewagen zweier deutscher Hersteller; liebt es, sportlich-aggressiv auf den Straßen in Kreuzberg, Neukölln, Wedding oder Friedrichshain unterwegs zu sein; empfindet Fahrradfahrer als lästiges, verkehrshemmendes Geschmeiß, das hier nicht hergehört. Will man sich als Fahrradfahrer hin und wieder mit ihm verständigen (“Achten Sie doch bitte mal auf Ihren Seitenabstand!”), erhält man in der freundlichen Variante ein “Verpiss dich!” oder “F…doch deine Mutter!” zur Antwort; in der schlechten nimmt er dich mit seinem Auto aufs Korn, schneidet dich bei der nächstbesten Gelegenheit oder fährt provokativ ruckartig an, wenn man mit dem Fahrrad vor seiner Motorhaube steht. Keine gute Koexistenz mit diesem machistischen Zeitgenossen auf Berliner Straßen! Ein anderer Autofahrer, diesmal Kurt aus Schöneberg, wollte sich das Recht des Stärkeren nehmen. Er musste (wie oben beschrieben) an einer Kreuzung warten, obwohl seine Ampel auf Grün stand, wir fuhren und fuhren. Da tat sich eine kleine Lücke zwischen uns auf. Kurt wollte die Chance nutzen und fuhr los. Doch er war zu langsam, schon war das nächste Fahrrad in Reichweite. Kurt bremste zwar, doch die Fahrradfahrerin musste abrupt ausweichen, kam ins Schleudern und letztlich zu Fall. Sie blieb unverletzt, das Fahrrad auch, kein weiterer Schaden außer Schramme und Schrecken. Bei der sich anschließenden Diskussion mit Kurt pochte er wütend auf sein Ampel-Grün-Recht, meine Kollegen Fahrradfahrer aber blieben besonnen und klärten ihn über alle wichtigen Fragen des Vorfalls auf. ... Oder die Fahrradumrundung des Großen Sterns an jenem Abend. Ein Meer von Fahrrädern, entspannt und vergnügt auf allen vier Spuren, immer wieder eine Runde drehend ums Denkmal, eine zwei drei vier … und die am Rand stehenden Autos, kein Weiterfahren, kein Durchkommen, zunehmend genervt. Zwei von ihnen stiegen aus, gingen auf den Fahrradposten zu, der stehend an einer Zufahrt diese sicherte, redeten erst laut auf ihn ein, fingen aber bald an, handgreiflich zu werden. Andere Fahrradfahrer traten hinzu, und es hätte wohl eine kleine Keilerei gegeben, wäre nicht einer von den drei bis vier Motorradfahrern der Polizeieskorte - die die Critical Mass immer begleitet - hinzugekommen.
So also ist es mit der Critical Mass, dem großen Event der alternativen Fortbewegungsart, dem Kampf der Fahrradfahrer, die für ihr Recht auf Straße und öffentlichen Raum jeden Monat zweimal durch die Hauptstadt radeln. So verständnisvoll wie möglich mit ihren Mitnutzern umgehend, so bestimmt und fordernd, wie es die neue Zeit gebietet: die Zeit des (Wieder-)Aufstiegs des Fahrrads als vernünftigstes und bald beliebtestes Verkehrsmittel. Zu guter letzt: Fahrradfahrer aller Nationen dieser Stadt: Schließt euch uns an!

Autor:

Thomas Kunze aus Friedrichshain

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