Gleisdreieck: literarische Annäherung an einen Mythos

Eine historische Aufnahme von 1901 zeigt die ursprüngliche Gleisführung. | Foto: unbekannt
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  • Eine historische Aufnahme von 1901 zeigt die ursprüngliche Gleisführung.
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Schöneberg. Unweit der Potsdamer Straße liegt das Gleisdreieck, jene einst gigantische Industrielandschaft mit 50 parallel verlaufenden Gleisen, heute Stadtnatur und Park.

Im Rahmen der Reihe „Charme-Offensive Potsdamer Straße“ hat sich eine Lesung diesem „Mythos Gleisdreieck“ auf besondere Weise, nämlich literarisch, genähert: im Café-Restaurant „P103 Mischkonzern“.

Frisch im Buchhandel ist „Gleisdreieck/Parklife Berlin“. Die Landschaftsarchitektin Andra Lichtenstein und die Produktdesignerin Flavia Alice Mameli, Stadtforscherinnen mit Leidenschaft für Berlin, haben 13 Interviews, einen historischen Abriss, sechs Essays und großformatige Abbildungen vereint.

Das Gleisdreieck hat seit seiner Entstehung, die 1838 mit der Eröffnung der ersten preußischen Eisenbahnlinie, der Berlin-Potsdamer Stammbahn, und einem Personenbahnhof nördlich des Landwehrkanals begann, viele Schriftsteller und Künstler in seinen Bann gezogen.

1924 veröffentlichte Joseph Roth, Berlin-Korrespondent der Frankfurter Zeitung, sein „Bekenntnis zum Gleisdreieck“. Roth, der in der Potsdamer Straße 73 zur Untermiete wohnte, schrieb: „So sieht das Herz einer Welt aus, deren Leben Radriemenschwung und Uhrenschlag, grausamer Hebeltakt und Schrei der Sirene ist. (…) In den Gleisdreiecken, Gleisvielecken vielmehr, laufen die großen, glänzenden, eisernen Adern zusammen, schöpfen Strom und füllen sich mit Energie für den weiten Weg und die weite Welt: Aderndreiecke, Adernvielecke, Polygone, gebildet aus den Wegen des Lebens: man bekenne sich zu ihnen!“ Noch expressiver hatte es vier Jahre zuvor der Kabarettist Walter Mehring in „Achtung Gleisdreieck“ ausgedrückt. „Untergrund/Kunterbund/Kurve! und/Gleis-drei-eck!/Alles flucht/Alles sucht/Drunter und drü-ber-weg/Jedermann/Lebemann/Biedermann:/Schieber/Allesamt/Gleichverschlampt/Gleiches Kaliber!/Jeder in/Anderer/Richtung und/Achtung! Das/Gleis-drei-eck!“

Vier Jahrzehnte später, nach Weltkrieg und deutscher Teilung, beschreibt der Dichter Günter Grass die Eisenbahnanlage in einem Gedichtband so: „Gleisdreieck, wo mit heißer Drüse/die Spinne, die die Gleise legt,/sich Wohnung nahm und Gleise legt.“

Das neue Buch "Gleisdreieck/Parklife Berlin" lebe von den Bildern, so Lichtenstein und Mameli. So wirft der Fotograf Lorenzo Pesce einen „italienischen Blick“ auf die Parkbesucher, während der Berliner Mario Ziegler einzelne Orte im Park atmosphärisch abbildet.

„Der Mythos des Gleisdreiecks hat uns total fasziniert“, sagen die beiden Autorinnen. Der kalten Großstadt sei ein Stück Wildnis abgerungen worden. 60 Hektar sind es. Für Andra Lichtenstein und Flavia Alice Mameli ist der Mythos Gleisdreieck auch in dessen Umfeld entstanden; beim Bau des Potsdamer Platzes etwa oder im Atelier des Künstlers Ben Wagin, durch die Bürgerbeteiligung, die erste, die der Senat – noch vor Beginn der eigentlichen Planungen – ausgeschrieben hatte oder im großen Kampf der Bürgerinitiative um das Gelände. Mancher Aktivist hat sein halbes Leben damit zugebracht. KEN

Andra Lichtenstein und Flavia Alice Mameli. Gleisdreieck/Parklife Berlin. Deutsch und Englisch. 288 Seiten. Transcript Verlag. ISBN 13-978-3837630411. 34,99 Euro.
Autor:

Karen Noetzel aus Schöneberg

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