In Kursen lernen Berliner, sich zu verteidigen

Berlin. Wer sich auf den Straßen der Hauptstadt, im öffentlichen Nahverkehr oder in Clubs und Kneipen alleine unsicher fühlt, kann in Kursen lernen, sich selbst zu verteidigen. Erstes Ziel ist es allerdings, der Gewalt aus dem Weg zu gehen.

"Wer schon von Weitem wirkt wie ein Opfer, der hat es schwer", sagt Robert Coffey, drückt seine Zigarette aus und betritt einen Trainingsraum im Erdgeschoss eines Charlottenburger Hinterhauses. Er klatscht in die Hände, stellt sich vor eine weißgetünchte Backsteinwand und blickt in den schlauchartigen Raum voller Menschen in Sportklamotten. Coffey hebt einen Arm und stößt die Faust kraftvoll nach vorne. Alle anderen machen es ihm nach. Dann wird in Zweierteams weitertrainiert: Angriff und Verteidigung.

Mit einem starken Selbstbewusstsein

Robert Coffey ist Coach für Selbstverteidigung und diese beginnt für ihn immer mit einem starken Selbstbewusstsein. "Wenn dich auf der Straße oder in der U-Bahn jemand blöd anmacht, ist der immer größer oder stärker als du", sagt der 44-Jährige. Trotzdem könne man sich wehren, wenn man die richtige Technik anwendet. Und die heißt in den meisten Fällen: "Raus aus der Situation, auf sich aufmerksam machen und nicht provozieren." Damit seine Schützlinge auch für den eher seltenen Fall des direkten Angriffs gewappnet sind, gehört außerdem der Umgang mit Schlägereien und anderen gefährlichen Situationen ins Repertoire seiner Ausbildung. Grundlage seiner Kurse sind Techniken aus dem Wing Tsun, einer asiatischen Kampfkunst, bei der es um schnelle Körperreaktionen geht - eine Art weiches Kung Fu.

Die aktuelle Kriminalitätsstatistik der Berliner Polizei für das Jahr 2012 zeigt, dass insbesondere Fälle gefährlicher und schwerer Körperverletzung auf Straßen, Wegen und Plätzen stark um 7,4 Prozent gestiegen sind. Im Jahr 2011 waren sie noch um fast 14 Prozent gesunken. Doch neben der Statistik hinterlassen vor allem Vorfälle wie die tödliche Prügelattacke im vergangenen Jahr am Alexanderplatz Gefühle der Unsicherheit. "Wir spüren das ganz klar bei der Nachfrage nach unseren Kursen", sagt Coffey.

Selbstverteidigung für jeden

Im Trainingsraum geht es jetzt hektisch zu. Es ist warm und laut geworden. Turnschuhe quietschen auf dem Parkettboden, man hört Hände aufeinander klatschen und Füße trampeln. An der Wand hängt ein riesiger Spiegel, der die Bilder der miteinander rangelnden Menschen vervielfacht. Ohne die lauten Lacher zwischendurch und die ruhigen erklärenden Worte von Coffey und seinem Partner Andriy Shevchenko könnte man meinen, man sei mitten in einer Massenschlägerei. Doch bei den Trainings von "Selbstverteidigung für jedermann" wird Gewalt nur gespielt.

Dass Gewalt schnell real werden kann, hat Anna Jürges in einem Berliner Club erlebt. Als es dort zu einer Massenschlägerei kam, war sie mittendrin und konnte sich nicht wehren. "Ich habe schon diverse Situationen erlebt, in denen ich mich einfach nur ohnmächtig gefühlt habe", sagt die 33-Jährige, die sich deshalb seit Herbst vergangenen Jahres im Selbstverteidigen übt. Schritt für Schritt fühlt sie sich sicherer - vor allem, wenn sie nachts alleine unterwegs ist. "Meine Haltung hat sich geändert", sagt sie, auch wenn sie die Techniken noch nicht perfekt beherrscht. "Aber ich kann die Situationen jetzt viel besser einschätzen und ihnen aus dem Weg gehen."

Reine Kopfsache

"Das ist Kopfsache", fügt Banu Inaler an, während sie ihren Trainingspartner mit beiden Händen abwehrt, der versucht, sie an den Schultern zu packen. Genau das ist es, was ihr Trainer mit der Opferhaltung meinte. "Frauen werden oft unterschätzt", sagt Coffey und spielt mit Banu Inaler nochmals den Angriff durch. "Los schrei mal richtig laut, das schreckt ab", brüllt er ihr entgegen.

Gewalt erkennen, ihr ausweichen und auf die Gefahr aufmerksam machen, zu diesem Vorgehen rät auch die Berliner Polizei. In gezielten Anti-Gewalt-Seminaren können Berliner Bürger beim Landeskriminalamt lernen, wie man in brenzligen Situationen reagieren sollte. Timo Hartmann ist der Leiter dieser Seminare und erfährt dabei immer wieder, wie groß die Unsicherheit ist. "Wenn ein Vorfall in den Medien breit diskutiert wird, haben wir viel mehr Teilnehmer", sagt der Mitarbeiter der Zentralstelle für Prävention. Das Thema Selbstverteidigung sieht er aber auch ein wenig kritisch, da nicht alle Kursanbieter der Gewaltvermeidung Vorrang einräumen. Denn wer sich verteidigt oder eingreift, begibt sich in Gefahr und provoziert, dass die Situation eskaliert. "Solche Kurse können auch eine trügerische Sicherheit vermitteln", warnt der Anti-Gewalt-Trainer. Wichtig sei es zu wissen, wie man die Gewaltsituation am schnellsten auflösen kann. Seine Grundregel lautet: "So viel Aufmerksamkeit erzeugen wie möglich." Mit Fäusten verteidigen? Nur im aller äußersten Notfall.

"Wir wollen keine Rambos"

Bei Robert Coffey klingt das im Kurs zwar ein wenig anders, wenn er laut brüllt "Bam, bam, bam. Draufhauen, wegrennen und Taxi rufen", aber auch er vertritt den Ansatz, dass Draufhauen nur den Notfall darstellt. "Genau diesen Notfall trainieren wir hier", sagt er und fügt mit angespannter Stimme und hochgezogenen Augenbrauen hinzu: "Wir wollen hier keine Rambos ausbilden." Dies würde auch den Grundlagen des Wing Tsun widersprechen, das eines ganz besonders lehrt: das Ausweichen.

Neben den Handgriffen zur Abwehr eines potenziellen Täters ist es genau das, was die Kursteilnehmer im Trainingsraum vor großem Spiegel und weißgetünchten Wänden immer wieder üben: zur richtigen Zeit einen Rückzieher machen.

Polizei muss präsenter sein

Mehrheit fühlt sich auf Berlins Straßen unsicher

"Mein Kernanliegen ist, dass die Polizei präsenter im Stadtbild ist", sagt Innensenator Frank Henkel angesichts des starken Anstiegs der Gewalttaten, wie die Kriminalitätsstatistik 2012 zeigt. Zwischen 2001 und 2011 wurden über 1800 Stellen im Polizeivollzug abgebaut. "Diesen Abwärtstrend kehrt die aktuelle Landesregierung gerade um. 250 neue Polizeivollzugskräfte befinden sich in Ausbildung, für weitere 150 Stellen setze ich mich in den laufenden Haushaltsberatungen ein", verspricht der Senator und reagiert damit auch auf die Tendenz, dass sich viele Berliner im öffentlichen Raum unsicher fühlen. So antworteten auf die Leserfrage zur Reportage "Fühlen Sie sich auf Berlins Straßen sicher?" nur 13 Prozent der Teilnehmer mit Ja, 87 Prozent verneinten. Um die Sicherheit im öffentlichen Raum zu verbessern, wurden auch Kontaktmobile der Polizei auf dem Alexanderplatz und dem Breitscheidplatz aufgestellt und ein Servicebüro am Bahnhof Zoo eingerichtet. Große Sorgen bereitet Frank Henkel allerdings auch der Anstieg bei den Einbrüchen, Tötungs- und Raubdelikten. "Hier müssen wir durch polizeiliche Maßnahmen gegensteuern", sagt der Senator.

Mehr Gewalt in der Hauptstadt

Die neue Kriminalitätsstatistik für Berlin zeigt zwar, dass die Gesamtzahl der Straftaten annähernd gleich geblieben ist. Es gibt ein leichtes Plus von 0,2 Prozent auf insgesamt 495 297 Fälle. Jedoch ist ein starker Anstieg bei den Gewalttaten zu verzeichnen. So gab es eine deutliche Zunahme bei den Tötungsdelikten (um 7,2 Prozent auf 222 Fälle) und eine leichte bei den sogenannten Rohheitsdelikten (um 1,8 Prozent auf 63 837 Fälle). Darunter fallen Straftaten wie Raub und Körperverletzungen. Stark gestiegen ist vor allem die Anzahl der Fälle von gefährlicher und schwerer Körperverletzung auf Straßen, Wegen und Plätzen - um ganze 7,1 Prozent auf insgesamt 4175 Fälle. Im Vergleich zur Kriminalitätsstatistik 2011 zeigt dieser Bereich gravierende Unterschiede: Damals waren die Fallzahlen um 13,9 Prozent gesunken.

Jana Tashina Wörrle / jtw
Autor:

Jana Tashina Wörrle aus Charlottenburg

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