Eier aus der zehnten Etage: Vor 50 Jahren zog riesige Legebatterie ins Gewerbegebiet Köllnische Heide

Vor 50 Jahren hatten das Hochhaus noch keine Fenster, eine Beleuchtungsanlage simulierte Tag und Nacht. | Foto: Schilp
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  • Vor 50 Jahren hatten das Hochhaus noch keine Fenster, eine Beleuchtungsanlage simulierte Tag und Nacht.
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Viel zu sehen gibt es am Boschweg nicht. Ein paar Gewerbebauten säumen die kurze Straße, gesichtslos und flach. Einzig das Haus mit der Nummer 13 bildet eine Ausnahme – nicht nur, weil es mit seinen zehn Stockwerken alle Nachbarn überragt. Wer seine Geschichte kennt, schaut garantiert ein zweites Mal hin: Es war einmal ein gigantischer Hühnerstall.

Im Gewerbegebiet zwischen der Neuköllnischen Allee, dem Britzer Verbindungskanal und der Stadtautobahn heißen die Straßen nach Naturwissenschaftlern und Unternehmern – nach Friedrich Karl Bergius, Fritz Haber, Eugen Schmalenbach, Alfred Nobel und Carl Bosch. Das hat seinen Grund: Dort sind viele Firmen ansässig, es werden Zigaretten hergestellt, Kaffeebohnen geröstet, Kunstoffe verarbeitet und anderes mehr.

Vor genau einem halben Jahrhundert, 1967, eröffnete jedoch ein ganz besonderer Betrieb: das Hühnerhochhaus. Dort war die größte Legebatterie in ganz Europa untergebracht, 150 000 Hennen. Ihre Eier sollten ein Achtel bis ein Siebtel des gesamten West-Berliner Bedarfs decken.

Im Alter von vier Monaten zogen die Tiere in das zehnstöckige, damals fensterlose Gebäude ein. Den Rest ihres Lebens fristeten sie, jeweils zu viert, in Kunststoff-Boxen. Die Zeit-Journalistin Marie-Luise Scherer beschrieb das so: „Drei Hühner können parallel stehen, eins nimmt in Querlage den Hintergrund ein. Hat das hintere Huhn Hunger oder Durst, dann kann es in zehn Minuten eines der vorn stehenden Hühner nach hinten abdrängen.“

Ein knappes Dreivierteljahr lang währte diese erbärmliche Existenz, danach wurden die Tiere geschlachtet. Jedes einzelne sollte in dieser Zeit rund 240 Eier legen, eine Leistung, für die eine gewöhnliche Bauernhof-Henne fast drei Jahre brauchte. Der Betrieb war auf höchste Effizienz ausgerichtet: Futter und Streu wurden automatisch zu den Boxen gebracht. Auch das Einsammeln der Eier und der Abtransport des Kotes liefen maschinell. Beleuchtungsanlagen simulierten einen Tag-Nacht-Zyklus.

Der Protest gegen den Hühnerbunker blieb nicht aus. Der Berliner Tierschutzverein forderte die Hausfrauen auf, Eier von „freien“, statt von „eingekerkerten“ Hühnern zu kaufen. Der berühmte Tierschützer Bernhard Grzimek wandte sich empört an den Landwirtschaftsminister – sein erstes Engagement gegen die Käfighaltung von Hennen, dem weitere folgen sollten. Der Betrieb ging dennoch weiter. Der ursprüngliche Plan, die Zahl der Tiere auf 250 000 aufzustocken, wurde allerdings nicht verwirklicht. Das hatte zwei Gründe. Zum einen fielen die Eierpreise Anfang der 70er-Jahre in den Keller. Zum anderen waren die Kosten für das Hühnerhochhaus hoch: Die Eier mussten beispielsweise per Fahrstuhl zur Sortieranlage ins Erdgeschoss gebracht werden, die billigen Kunststoffboxen erwiesen sich als untauglich, die Kotbänder, die pro Tag 40 Tonnen Fäkalien bewegten, rissen häufig. Fünf Jahre nach der Eröffnung wurde das Hühnerhochhaus mangels Rentabilität geschlossen.

Nur mit Glück entging das Gebäude dem Abriss, denn nach Schließung der Legebatterie sah es nicht gut aus. Die Decken hatten nur eine geringe Tragkraft, es gab Feuchtigkeitsschäden, und es stank. Aber immerhin hatte der Architekt von vornherein an eine mögliche Nutzung als Lagerhaus, nach Einbau von Fenstern auch für Büros gedacht. Fast zwei Jahrzehnte, bis Mai 2008, hatte auch die Berliner Woche in dem Hochhaus ihren Sitz. Heute wird es als Gewerbehaus genutzt.

Vor 50 Jahren hatten das Hochhaus noch keine Fenster, eine Beleuchtungsanlage simulierte Tag und Nacht. | Foto: Schilp
Weithin zu sehen: Der ehemalige Hühnerbunker ist heute Sitz von Firmen. Foto: Schilp | Foto: Schilp
Autor:

Susanne Schilp aus Neukölln

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