Ist die East Side Gallery unantastbar?

Die Mauer soll bleiben: Jasmin aus Friedrichshain protestiert mit einem selbst gemalten Schild. | Foto: Thomas Schubert
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Friedrichshain. Als die Mauer fiel, geschah der Wille des Volkes. Heute aber regt sich Zorn, da Bauvorhaben hinter der East Side Gallery, dem längsten erhaltenen Teil des Walls, Lücken erfordern. Und die Debatte, wie viel Mauerverrücken die Stadt verträgt, geht um die Welt.

Der Bundespräsident könnte bald Besuch bekommen. Und es hat sich in der Geschichte dieser Nation nicht oft ereignet, dass ihm jemand diese besondere kleine Schatulle zurück auf den Tisch legt. Inhalt ist das Bundesverdienstkreuz. Als Träger droht abzudanken: Kani Alavi, Vorsitzender des Künstlerinitiative East Side Gallery. 2011 wurde er geehrt für seine Verdienste um den Erhalt des 1,3 Kilometer langen, mit Gemälden veredelten Mauerdenkmals an der Mühlenstraße. Jetzt ist Alavi über seine Beschädigung zutiefst empört. Am Morgen des Tages, an dem er verkündet, das Bundesverdienstkreuz unter diesen Umständen nicht mehr tragen zu wollen, klafft in seinem Lebenswerk ein Loch. Der East Side Gallery, unter Alavis Regie 1990 gestaltet und gepflegt, fehlen plötzlich fünf Segmente. Bauarbeiter entfernten die runde Versiegelung über den Mauerstücken und setzten die fünf "Zähne" einige Meter weiter im ehemaligen Todesstreifen in den Schlamm.

"Schlag ins Gesicht"

Von einem "Überfall" spricht Kani Alavi, von einer "respektlosen Behandlung", von einem "Schlag ins Gesicht". Er diktiert es an diesem Morgen mit traurigen Augen in verschiedene Mikrofone. Reporter aus aller Welt sind erschienen. Wegen dem Loch. Wegen dieser Baustellenzufahrt für das zu errichtende Luxushaus dahinter. 63 Meter hoch, begrünte Terrassen, Eigentumswohnungen zu Preisen ab 2750 Euro pro Quadratmeter. Sollte das Mauerloch vor diesem Bau dauerhaft klaffen, versichert Alavi, dann macht er ernst. Dann gibt er das Kreuz zurück.

Die Besiedlung des früheren Todesstreifens beschäftigt nicht nur das Friedrichshain-Kreuzberger Bezirksparlament und den Senat. Die Kunde von Luxusbauten in einer historischen Sperrzone erreicht Menschen rund um den Globus. Und Kani Alavi weiß, dass er jetzt weithin hörbar Alarm schlagen muss, um zu retten, was noch zu retten ist. Denn das Baurecht ist auf der Seite des Investors Maik Uwe Hinkel. Und die innerberlinische Wirkung des Protests gegen "Living Levels" und weitere Bauten ist mehr als ungewiss. "Die Stadt", spricht Alavi in die Mikrofone, "hat einfach noch nicht begriffen, welche Schätze sie hat."

Aufräumen mit DDR-Relikt

Doch die Stadt klagt auch über Wohnungsnot und hat das Ansinnen, wohlhabende Steuerzahler an die Spree zu locken. Manche Berliner begrüßen es auch ganz unumwunden, dass jemand aufräumt mit dem DDR-Relikt am Flussufer, wegen dem etliche Menschen starben. "Das Symbol der stalinistischen Diktatur ist seit 20 Jahren eine Spaßleinwand, vor deren Front sich Touristen fotografieren lassen und hinter der die letzten Heimkehrer aus dem Berghain am Sonntagmittag schlafen oder pinkeln." So sieht die Buchautorin Andrea Hünninger die Mauergalerie. "Es ist nicht Geschichte, was sich hier verkörpert, sondern ein seltsamer Disney-History-Channel", urteilt sie in der Zeitung "Die Welt".

8000 Besucher pro Tag

Eine Kritik, der sich die Berliner Tourismusgesellschaft "Visit Berlin" nicht anschließen will. "Ein Besuch der East Side Gallery gehört zu den wichtigsten Berlin-Erlebnissen. Hierhin kommen 8000 Besucher pro Tag", bekräftigt Sprecherin Katharina Dreger den Wert des bemalten Walls. Das Verrücken von Mauerstücken schmälere die Bedeutung des Ganzen erheblich. "Die Galerie muss authentisch bleiben", fordert Dreger. "Denn es gibt nur noch wenige solcher authentischen Stellen in der Stadt."

Authentizität - das ist es, was dem oberster Mauerschützer Berlins ebenfalls am Herzen liegt. Professor Axel Klausmeister, Direktor der Stiftung Berliner Mauer, glaubt, dass die erinnernde Wirkung der East Side Gallery auf ihrer Undurchlässigkeit beruht und sie durch eine zunehmende Löchrigkeit diese Wirkung verliert. "Ich halte es für wichtig, hier in längeren Zeiträumen zu denken, anstatt kurzfristigen Interessen nachzugeben", sagt Klausmeister. Er spricht sich gegen eine Bebauung hinter der Mauer aus. Gern sähe er "das internationalste Denkmal Berlins" vollständig in der Obhut seiner Stiftung - bisher sorgt sie nur für die Gedenkstätte an der Bernauer Straße und die Erinnerungsstätte Notaufnahmelager Marienfelde.

Politisches Denkmal

Ob es gelingt, die Galerie in Friedrichshain der Stiftung zu unterstellen, wird davon abhängen, inwiefern sich die Grundstücke von Bauinvestoren noch zurückkaufen lassen. Für ein politisches Denkmal, das als mögliches Weltkulturerbe gehandelt wird, sollte das Geld zu beschaffen sein - daran glaubt das Bündnis "East Side Gallery retten" auch Wochen nach dem Lückenriss. Erst ließ es David Hasselhoff für sich sprechen. Bei der bislang letzten Protestveranstaltung ergreift eine Frau das Wort, die sich als Ost-Berlinerin von der Mauer eingesperrt fühlte. "Als Mahnung muss diese Mauerzeile hier bleiben", ruft Schauspielerin Ellen Rappus vom Verein "DDR-Opfer-Hilfe" ihren Zuhörern entgegen. Statt der vielen Tausend Demonstranten beim Umzug mit Hasselhoff sind nur noch etwa 200 an der Mühlenstraße erschienen. Der Widerstand gegen den Einriss der Galerie bröckelt wie einst die Mauer unter Meißeln. Hinter Rappus fährt ein Trabant in Militärlackierung vorüber. Am Steuer: eine Touristin - lachend und winkend. Doch Ellen Rappus sieht sie nicht. Sie hat wieder die alte Mauer vor Augen, die graue, die undurchlässige, als sie sagt: "Die Mauer gehört zu Berlin wie die Freiheitsstatue zu New York."

Ein Denkmal von höchstem Rang?

Nur eine kleine Mehrheit will die Mauer als Welterbe

Auf die Frage, ob die Berliner Mauer Weltkulturerbe werden sollte, stimmten 51 Prozent der Leser unserer Reportage mit Ja. Bei 49 Prozent fand dieser Gedanke keine Zustimmung. Kani Alavi, der Vorsitzende der Künstlergemeinschaft East Side Gallery, zeigt sich froh, dass dies immerhin zur Diskussion steht. "Ich habe genau das vor zehn Jahren schon vorgeschlagen. Und damals haben die Leute nur gelacht", erinnert sich Alavi. "Schön, dass sie jetzt langsam wach werden." Mit dem ehemaligen DDR-Bürgerrechtler Rainer Eppelmann und dem Denkmalexperten Professor Leo Schmidt wisse er namhafte Mitstreiter auf seiner Seite. Gemeinsames Ziel sei es, die Bauvorhaben im Friedrichshainer Todesstreifen zu stoppen und den Denkmalstatus der Grenzanlage zu untermauern. "Als Verein können wir da nichts ausrichten. Man müsste die Mauer von staatlicher Seite als Welterbe vorschlagen", sagt der Künstler und hofft auf Beistand. Konkret müsste die Kultusministerkonferenz den Vorschlag für die Aufnahme auf die UNESCO-Welterbeliste prüfen. Jedes Bundesland darf im aktuellen Verfahren bis 2014 historische Stätte nominieren. Von Berliner Seite bereits im Rennen: Die Karl-Marx-Allee und das Hansa-Viertel als gemeinsames Zeugnis der Nachkriegsarchitektur in Ost und West sowie der Jüdische Friedhof Weißensee.

Bedrohte Mauerkunst

An der Mühlenstraße zwischen Oberbaumbrücke und Ostbahnhof erstreckt sich das längste erhaltene Stück Mauer (1,3 Kilometer). Zu DDR-Zeiten hinderte dieser Wall Bürger an der Republikflucht aus Friedrichshain über die Spree nach Kreuzberg. Das anderen Ufer stellte die eigentliche Grenze dar. Die heutige East Side Gallery diente als Hinterlandmauer.
1990 gestalteten 118 Künstler die Betonfläche auf der Ostseite mit Motiven, die den Mauerfall verbildlichen. Der Plan, die bemalten Stücke zu versteigern, wurde verworfen. Stattdessen blieb die Galerie an Ort und Stelle und bekam 1991 den Denkmalstatus. Als die Gemälde zu verwittern begannen, gründete sich 1996 der Verein „Künstlerinitiative East Side Gallery“. Er organisierte zwei Restaurierungen in den Jahren 2000 und 2008.
Seit 2006 klafft vor der neu erbauten Mehrzweckhalle O2 World eine 42 Meter große Lücke. Dort wurden Mauerstücke versetzt, sodass ein freier Blick auf die Spree entstand. Von weiteren Durchbrüchen betroffen ist nicht nur der Bereich, in dem sich das Hochhaus „Living Levels“ befinden wird. Etliche Neubauvorhaben an der Spree lassen Mauerschützer befürchten, dass neue Lücken entstehen könnten.

Thomas Schubert / tsc
Autor:

Thomas Schubert aus Charlottenburg

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