Idylle Reiswerder war ein Rückzugsort für Verfolgte
Am 23. August 1944 schlug die Gestapo zu

Idyllisch liegt Reiswerder im Tegeler See – und hat doch eine bewegte Geschichte. | Foto: Christian Schindler
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Am 23. August jährt sich zum 75. Mal ein trauriges Ereignis: Die Gestapo verhaftet eine kleine Gruppe jüdischer Männer und Frauen, die auf der Insel Reiswerder die nationalsozialistische Verfolgung zu überleben hofften. Die Filmemacherin Christiane Carstens widmet der Geschichte aktuell ein Buch.

Es sind fünf Menschen, für die der 23. August 1944 eine brutale Wende bringt. Die 18-jährige Gerda Lesser, das Ehepaar Erna Johanna und Gerhart Fleck sowie Lotte Basch und Hermann Dietz werden von der Gestapo festgenommen. Die Beamten der Geheimen Staatspolizei wurden von einem Spitzel informiert, dass sich auf Reiswerder Juden versteckten. Für Gerda Lesser und Gerhart Fleck bedeutet dies letztlich den Tod. In einem 96-seitigen Buch ist die Schauspielerin und Filmemacherin Christiane Carstens den bisher wenig bekannten Ereignissen auf und um die kleine Insel im Tegeler See nachgegangen.

Wer heute über Reiswerder spricht, spricht vor allem über eine Idylle. Vom Ufer des Tegeler See aus betrachtet, ist sie eine grüne Oase mitten im Wasser, fernab des Großstadtlärms. Hier genießen in kleinen Häuschen ohne Wasser und Strom Menschen die Natur. 132 Mitglieder hat der Verein der Naturfreunde Baumwerder-Reiswerder, die die Lauben auf der 3,5 Hektar großen Insel nutzen. Lothar Berndorff, der zweite Vorsitzende des Vereins nennt in seinem Vorwort zum Buch noch weitere Zahlen: 180 Meter breit ist die „Wasserstraße“ zwischen der Insel und dem Berliner Festland, die kleine Fähre benötigt dafür zwei Minuten.

Erzwungener Umzug
nach Reiswerder

Die Geschichte der Naturfreunde beginnt eigentlich auf Baumwerder, der mit 5,2 Hektar „größeren Schwester Reiswerders“, denn letzte wurde bis in die 1940er Jahre von der Familie Bonus in großen Teilen für Obstanbau und Fischerei bewirtschaftet. 1942 erklärte die Berliner Verwaltung Baumwerder als „kriegswichtig“ zur Bohrung von Trinkwasserbrunnen. Die Naturfreunde mussten nach Reiswerder umziehen.

Schon zuvor hatte es Schikanen der Nationalsozialisten gegen den Verein gegeben, der aus der Arbeiterbewegung heraus entstanden war. Gleichwohl blieb Reiswerder ein Rückzugsort in der Diktatur. 1942 ist die jüdische Kaufmannstochter Gerda Lesser Zwangsarbeiterin in der Alfred Teves Maschinen-Armaturenfabrik in Tegel. Werkmeister Wilhelm Daene versucht sie und andere Leidensgefährtinnen vor der ständig drohenden Deportation zu schützen. Zusammen mit seiner Frau Margarete bringt er sie zunächst bei sich zu Hause in Konradshöhe unter. Als eine andere dort Untergetauchte beinahe Opfer eines „jüdischen Greifers“ wird – eines Juden, der um des eigenen Überlebens willen Schicksalsgefährten verrät – bringen die Daenes Gerda Lesser nach Reiswerder.

Zwei Verfolgte
überleben den Krieg nicht

Für Gerda Lesser ist es jedoch keine Rettung. Nach der Festnahme am 23. August wird sie über Theresienstadt am 1. Oktober 1944 nach Auschwitz verschleppt, wo sie noch am selben Tag ermordet wird. Gerhart Fleck stirbt vermutlich am 28. oder 29. November am Lager Gleiwitz, einem Außenlager von Auschwitz, an Hungertyphus. Der Spitzel, der die Festnahme veranlasste, soll nach Angaben der Autorin, ein Mann namens Peter Friedländer gewesen sein, über den aber nichts weiter bekannt ist.

Autorin Christiane Carstens versucht nicht nur so viel Licht wie möglich ins Dunkel der nationalsozialistischen Diktatur zu bringen. Sie zeigt auch den wenig empathischen Umgang des Nachkriegsdeutschland mit NS-Opfern. Erna Johanna Fleck, Lotte Basch und Hermann Dietz überleben, aber sie kommen nicht so richtig wieder auf die Beine.

Rückkehr nach Reiswerder

Erna Johanna Fleck kehrt zurück nach Reiswerder und betreibt eine Weile die Fleck’sche Erfrischungshalle an der Stelle, an der heute die DLRG-Rettungsstation steht. Bedroht von Insolvenz und Pfändung, zermürbt von verschleppten Wiedergutmachungsanträgen, akzeptiert sie letztlich eine Abfindung von 2000 Mark. 1988 stirbt sie. Hermann Dietz kehrt nach kurzzeitiger Auswanderung in die USA 1950 nach Reiswerder zurück. Die meiste Zeit ist er ohne Arbeit, beinahe verliert er in den 1970er Jahren seine Laube. Er kümmert sich um ein gedeihliches Miteinander der Inselbewohner.

Auch Lotte Basch wandert in die USA aus. Sie heiratet dort, und fristet eher dürftig und chronisch krank ein karges Leben als Verkäuferin. Lange wird ihr eine Entschädigung seitens der Bundesrepublik verweigert. 1969 erhält sie immerhin 19.600 Mark und eine monatliche Rente von 200 Mark.

Das Buch von Christiane Carstens „Untergetaucht in Reiswerder – Spurensuche auf einer Insel im Norden Berlins“ ist erschienen im Metropol-Verlag, Berlin, hat 96 Seiten mit zahlreichen Abbildungen und kostet zwölf Euro (ISBN: 978-3-86331-468-2).

Idyllisch liegt Reiswerder im Tegeler See – und hat doch eine bewegte Geschichte. | Foto: Christian Schindler
Blick vom Festland zur Fähre auf Baumwerder, die die Naturfreunde nutzen. | Foto: Christian Schindler
Autor:

Christian Schindler aus Reinickendorf

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