Mehr Anziehungskraft als so mancher Club
Das Projekt MitternachtsSport zieht Jugendliche nachts in die Turnhalle
Das Quartier Pulvermühle in Haselhorst ist weder in Berlin noch in Spandau für sein Nachtleben bekannt. Zu Unrecht. Hier gibt es ein spätabendliches Angebot, das mehr Jugendliche anzieht als viele Clubs, Veranstaltungsorte oder Lokale.
Der angesagte Ort ist die Sporthalle der Grundschule. An jedem Freitag und Sonnabend wird hier Fußball gespielt. Anpfiff ist um 21.30 Uhr, Abpfiff um 1 Uhr früh. Das Projekt heißt MitternachtsSport und existiert seit 2005. Fünf Jahre später wurde daraus ein eingetragener Verein und mittlerweile eine auch international bekannte Marke, die mehrfach ausgezeichnet wurde. Die Sporthalle Pulvermühle ist auch nicht der einzige Standort. Gekickt wird außerdem an der Schlossstraße in Charlottenburg und zeitweise auch am Falkenseer Damm.
Ein Erfolg, der nur dem Kicken zu verdanken ist? Natürlich steckt mehr dahinter. Aber der nächtliche Fußball ist und bleibt der Aufhänger.
Sozialarbeiter Ismail Öner ist der Gründer und das Gesicht von MitternachtsSport. Auch wenn inzwischen weitere Mitstreiter zum Team gehören. Der Anlass für seine Initiative war damals Jugendgewalt, speziell im Gebiet Heerstraße Nord. Um die Jugendlichen abends von der Straße wegzubekommen, kam er auf die Idee, sie mit Fußball zu begeistern. Fußball in der Nacht.
Anfangs sei er kritisiert und belächelt worden, erinnert sich Ismail Öner. Man warf ihm vor, eine Gegend schlecht zu reden. Andere gaben dem Projekt nur wenige Wochen. Die nächtlich beleuchtete Turnhalle wurde entgegen allen Unkenrufen zum Langzeitprojekt, weil eines von Anfang an klar war: "Es muss ein regelmäßiges Angebot sein. Jede Woche, nicht in großem zeitlichen Abstand." Daraus wurde dann eine erste Regel und Struktur.
Dass Regularieren wichtig sind, zeigt sich beim Reporterbesuch an einem Freitag im Oktober. An diesem Abend kommen rund 50 Jugendliche zwischen 13 und 19 Jahren. Viele sind bereits einige Zeit vor dem Starttermin in der Halle. Es sind fast ausschließlich Jungen. Gracia (19) ist das einzige Mädchen. Weil die Halle noch von Cheerleaderinnen belegt ist, halten sie sich noch in der Umkleide auf. Wer neu hinzukommt, begrüßt alle anderen mit Handschlag.
Silvio Pfemfert (19), angehender Sozialarbeiter ist heute für den Ablauf verantwortlich. Er wird, wie üblich, die Teilnehmer zu Beginn an die drei Basics des Mitternachtssports erinnern. Sie lauten Respekt, Toleranz und Fair Play.
Wie das praktisch aussieht, zeigt sich auf dem Spielfeld. Es werden an diesem Abend sechs Teams zu jeweils acht Spielern gebildet. Eine Partie dauert rund sieben Minuten. Es gibt keinen Schiedsrichter. Strittige Szenen, etwa Fouls, müssen untereinander geklärt werden. Der vermeintlich Gefoulte muss zugeben, ob das wirklich so war. Sein Gegenüber eingestehen, wenn er tätlich geworden ist. Das funktioniert ziemlich geräuschlos. Selbst eine Altherrenmannschaft, so der Eindruck, macht bei ihren Spielen mehr Lärm. Die Kicker sind mehr oder weniger talentiert. Es gelingen und misslingen Aktionen. Aber alle scheinen Spaß zu haben.
Spaß nennen mehrere Jugendliche als Grund für die Teilnahme am Mitternachtssport. Begriffe wie Respekt und sogar Disziplin werden genannt. Die klaren Regeln scheinen eher anzuziehen als abzuschrecken. Über den Fußball ließen sich eben viele Werte vermitteln, unterstreicht Ismail Öner. Dass der einzelne wichtig sei zum Beispiel, aber Erfolg nur im Team möglich ist.
MitternachtsSport sieht sich dabei als integratives-partizipatives Sozialprojekt mit Angeboten über den Fußball hinaus. Der Verein betreibt in der Altstadt sowie dem Haveleck im Quartier Pulvermühle zwei Einrichtungen mit Nachmittagsprogramm, Freizeitaktivitäten, Hausaufgabenhilfe. Die Grundfinanzierung leistet das Land Berlin. Dazu gibt es zahlreiche Sponsoren und Gönner, von der Gasag über die AOK bis zu Hertha BSC.
Die Attraktivität hängt wiederum mit der Erfolgsgeschichte zusammen. MitternachtsSport erfuhr sehr schnell nach der Gründung große öffentliche Aufmerksamkeit und wurde in der Folgezeit mit zahlreichen auch international renommierten Preisen ausgezeichnet darunter 2013 den Medienpreis "Bambi", 2015 den als "Sport Oscar" bezeichneten Laureus-Award und 2017 der EU Sport Award als bestes Sport- und Integrationsprojekt in Europa. "Es gibt eigentlich keinen wichtigen Preis, den wir nicht schon gewonnen haben", sagt Ismail Öner.
Zudem sichert sich das Projekt durch die Initiative "Große Brüder" immer wieder mediale Aufmerksamkeit. Unter dieser Bezeichnung fungieren bekannte Profifußballer als Unterstützer, Vorbilder, Freunde, "Familienmitglieder". Sie schauen regelmäßig beim MitternachtsSport vorbei. Den Anfang machte 2010 der spätere Weltmeister Jérôme Boateng. Auch unter anderen Manuel Schmiedebach, Gonzalo Castro oder der in Haselhorst aufgewachsene Jordan Torunarigha sind mit dabei.
Die Frage, ob vor allem die Älteren nach mehreren Stunden nächtlichem Kicken noch um die Häuser ziehen, wird mit einem Lachen beantwortet. Die meisten wären danach ziemlich ausgepowert, vermutete Ismail Öner. Und zumindest in der näheren Umgebung gibt es nicht viele Ausgeh-Alternativen.
Draußen ist es schon vor Mitternacht still und weitgehend dunkel. Außer einem Waschbären ist niemand auf der Straße. Nachtruhe im Quartier Pulvermühle. Aber in der Turnhalle brennt noch lange Licht.
Autor:Thomas Frey aus Friedrichshain |
Kommentare
Sie möchten kommentieren?
Sie möchten zur Diskussion beitragen? Melden Sie sich an, um Kommentare zu verfassen.