Buchbesprechung
Freud mit (emanzipatorischem) Anspruch
Victoria Mas wirft mit ihrem ersten Roman "Die Tanzenden" ein neues Licht auf die Anfangstage der Psychoanalyse. Das ist nicht nur sehr erhellend, sondern auch spannend.
1895 veröffentlichten Josef Breuer und Sigmund Freud erstmals ihre “Studien über Hysterie”. In zahlreichen Schilderungen realer Fälle weiblicher psychischer Abnormitäten erblickt die Forschung die ersten Beispiele psychoanalytischer Forschung. Victoria Mas könnte die Reihe der geschilderten Fallbeispiele hysterischer Frauen fortsetzen, und sie tut es auch in ihrem sehr lesenswerten Debüt “Die Tanzenden” (2020). Einen entscheidenden Unterschied macht die junge französische Autorin: Sie eröffnet einen emanzipatorischen Blick auf die Frauen, die in der Pariser Salpêtrière der 1880er Jahre interniert sind und in vielen Fällen gar nicht psychisch krank, sondern einfach gesellschaftlich unbequem sind und deswegen von Männern beiseite geräumt werden.
Dies erfährt auch die junge, geistig völlig gesunde Eugénie, die auf Initiative ihres Vaters in die Anstalt eingewiesen wird, weil ihr die Geister Verstorbener erscheinen und er dies für gesellschaftlich unakzeptabel hält. Die leitende Pflegerin Geneviève fasst Vertrauen zu ihr, da sie deren Fähigkeiten selbst erfährt und daraufhin von ihrem eigenen Vater ähnlich behandelt wird. Wird Eugénie der Weg zurück in die Freiheit gelingen?
Victoria Mas legt einen hochspannenden Roman vor, dessen Handlung sich souverän vor dem geistigen Auge des/der Leser*in entfaltet. Manchmal etwas unsicher in der szenischen Komposition, trifft ihr Plot den Nerv unserer Zeit genauso zielsicher wie das Defizit der aufkommenden Psychoanalyse des Fin de Siècle. Frauen werden hier lediglich als Objekt betrachtet und nach Gusto der Männer weggesperrt. Es wird mit ihren Gefühlen gespielt, und bei Bedarf werden sie aus voyeuristischen Motiven hervorgezerrt wie zum Beispiel bei Zurschaustellungen von Trancezuständen der Frauen vor jungen, unreifen Ärzten oder beim öffentlichen Mittfastenball der Salpêtrière.
Fazit: Absolut lesenswert. Eine erschütternd andere Sicht auf die Psychiatrie als männliches Unterdrückungsmittel. Und dabei spannend zu lesen, meist souverän komponiert und schlüssig in der Charakterzeichnung.
€ 20,00 [D], € 20,60 [A]
Erscheint am 06.07.2020
Übersetzt von: Julia Schoch
240 Seiten, Hardcover mit Schutzumschlag
EAN 978-3-492-07014-0
Autor:Dino DeMonti aus Reinickendorf |
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