Musik machen mit Fäusten und Füßen: Jeffrey Bossin und das Grand Carillon im Tiergarten

Seit 30 Jahren am Stockspieltisch des Großen Carillons im Tiergarten: Jeffrey Bossin. | Foto: KEN
3Bilder
  • Seit 30 Jahren am Stockspieltisch des Großen Carillons im Tiergarten: Jeffrey Bossin.
  • Foto: KEN
  • hochgeladen von Karen Noetzel

Aus dem sonnigen Kalifornien ist Jeffrey Bossin – mit Betonung auf dem I, weil ein Großvater aus der Ukraine stammte – vor 45 Jahren nach Westberlin gekommen. Er wollte seine Deutschkenntnisse aus der Schulzeit verbessern und Musikwissenschaften studieren. Vor allem aber wollte der Musiker „seinem“ Instrument näher sein, das er selbst nicht besitzen kann: dem Carillon.

Das Carillon, das Großglockenspiel, ist nicht weit verbreitet. Während in unzähligen Kirchen Orgeln stehen, gibt es in ganz Deutschland nur 45 Carillons. In Frankreich sind es sechzig, in Dänemark 25. Die ursprüngliche Heimat des Glockenspiels sind die Niederlande und Flandern.

Jeffrey Bossin kam im August 1972 mit nur einem Koffer als Gepäck am Bahnhof Zoo an. „Ohne irgendwen zu kennen“, erinnert er sich. An der University of California in Riverside hatte er zunächst Klavier studiert. Auf dem Gelände der Alma mater stand ein Carillon. Es begeisterte den damals 18-Jährigen. Der Universitäts-Carillonneur lehrte den jungen Studenten drei Jahre lang das Spiel auf diesem Instrument, das eine Mischung aus Klavier und Orgel ist.

In Berlin gab es damals kein Großglockenspiel in Reichweite. Die Glockenspieltradition, die vom ersten Preußenkönig begründet worden war, ist nach 1945 verloren gegangen. Bossin fuhr nach Hannover, Aschaffenburg oder Kopenhagen, „um gelegentlich auf einem Carillon zu spielen“.

Anfang der Achtziger schmiedete er den verwegenen Plan, dem Westberliner Senat zur 750-Jahr-Feier der Stadt den Bau eines Carillons nach amerikanischem Vorbild vorzuschlagen, freistehend in einer Grünanlage, im Tiergarten.

Der Musikwissenschaftler entwarf das Instrument, suchte die Glockengießerei aus – es gab damals in Europa nur drei, die mit Carillons Erfahrung hatten – und beriet beim Bau des 42 Meter hohen Instruments. 68 Glocken mit einem Gesamtgewicht von 48 Tonnen hatte es am Ende und war das viertgrößte in Europa.

„Das war ein großes Abenteuer“, sagt Bossin. „Und das Aberwitzige war, dass nur der Glockengießer und ich überhaupt eine Vorstellung hatten, was daraus werden sollte.“ Es wurde am 27. Oktober 1987 feierlich eingeweiht. Daimler-Benz hatte dafür 5,3 Millionen D-Mark spendiert.

Seit 30 Jahren sitzt Bossin nun als freiberuflicher Carillonneur im Auftrag der Gesellschaft „Kulturveranstaltungen des Bundes in Berlin“ (Berliner Festspiele, Gropiusbau, Haus der Kulturen der Welt) regelmäßig in luftiger Höhe zwischen den großen, bis zu acht Tonnen schweren Glocken und den kleinen, die gerade einmal acht Kilo auf die Waage bringen. Der Aufstieg über eine Wendeltreppe zur Spielkabine in 33 Meter Höhe ist mühsam. Dort steht der Spieltisch aus amerikanischer Eiche. Er erinnert an einen Webstuhl.

Bei seinen Konzerten schlägt Bossin mit geballten Fäusten behände auf die „Tasten“ zweier Manuale. An den kleinen Fingern trägt er einen Lederschutz, eine Spezialanfertigung. „Ich will keine Hornhaut kriegen, weil ich auch Klavier unterrichte“, erklärt er. Zum Spieltisch gehören noch 30 Pedale, wie bei einer Orgel. Über Zugdrähte, deren Spannung Bossin einstellen kann, sind Tasten und Pedale mit den Klöppeln der Glocken verbunden. Nicht jede Komposition für Tasteninstrumente kann der Carillonneur spielen, denn die Glocken haben einen Nachhall.

Wer nach Jeffrey Bossin, dem freundlichen 67-Jährigen mit dem Dreitagebart, auf dem Großen Glockenspiel im Tiergarten spielen wird, ist ungewiss. „Ich habe keine Gelegenheit, Nachwuchs auszubilden“, sagt er. „Die Stadt hat kein Übungsinstrument gekauft. Es gibt auch keine Übungsräume.“

Noch hat der Vizepräsident der internationalen Carillon-Organisation „Eurocarillon“, der als Mitglied der russischen Glockenkunstvereinigung das 63 Tonnen schwere historische Geläut von Rostow Weliki bei Moskau betreut, nicht Abschied genommen vom Carillon im Tiergarten.

Konzerttermine sind auf www.carillon-berlin.de zu finden. Nach den Konzerten bietet Bossin Turmführungen an. Seit kurzem ist der Carillonneur auch im Livestreaming und auf Youtube zu erleben.
Autor:

Karen Noetzel aus Schöneberg

following

Sie möchten diesem Profil folgen?

Verpassen Sie nicht die neuesten Inhalte von diesem Profil: Melden Sie sich an, um neuen Inhalten von Profilen und Orten in Ihrem persönlichen Feed zu folgen.

20 folgen diesem Profil

Kommentare

online discussion

Sie möchten kommentieren?

Sie möchten zur Diskussion beitragen? Melden Sie sich an, um Kommentare zu verfassen.

Beitragsempfehlungen

WirtschaftAnzeige
Für weitere rund 180.000 Haushalte in Berlin baut die Telekom Glasfaserleitungen aus. | Foto: Telekom

Telekom baut Netz aus
Glasfaser-Internet hier im Bezirk

Ab Dezember starten die Arbeiten zum Ausbau des hochmodernen Glasfaser-Netzes in Borsigwalde, Friedenau, Frohnau, Hakenfelde, Lichtenrade, Lübars, Mariendorf, Neu-Tempelhof, Reinickendorf, Schöneberg, Spandau, Tegel, Waidmannslust, Wilhelmstadt und Wittenau. Damit können weitere rund 180.000 Haushalte und Unternehmen in Berlin einen direkten Glasfaser-Anschluss bis in die Wohn- oder Geschäftsräume erhalten. Die Verlegung der Anschlüsse wird im Auftrag der Telekom durchgeführt. Bis 2030 plant...

  • Borsigwalde
  • 11.12.24
  • 779× gelesen
WirtschaftAnzeige
JRB DER HEIMWERKER hat alles, was Ihr Weihnachtsfest schöner macht. | Foto: JRB DER HEIMWERKER

JRB DER HEIMWERKER
Alles für Advent und Weihnachten

JRB DER HEIMWERKER hat ein stimmungsvolles und umfangreiches Angebot im Weihnachtsmarkt für Sie, liebe Kunden, zusammengestellt. Im EG. und 1. OG, das Sie bequem mit Rolltreppe oder Aufzug erreichen können, erwartet Sie eine große Auswahl an Weihnachtsdekoration. Christbaumkugeln und Spitzen in vielen Farben und Formen sowie viele Deko-Artikel, Figuren sind in großer Auswahl vorhanden. Das wichtigste ist ein guter Weihnachtsbaumständer und natürlich die Beleuchtung. Wir führen Lichterketten,...

  • Köpenick
  • 27.11.24
  • 785× gelesen
WirtschaftAnzeige
Einstiegstüren machen Baden und Duschen komfortabler. | Foto: AdobeStock

GleichWerk GmbH
Seniorengerechte Bäder und Duschen

Seit März vergangenen Jahres ist die Firma GleichWerk GmbH in Kremmen der richtige Partner an Ihrer Seite, wenn es um den Innenausbau Ihres Hauses oder Ihrer Wohnung geht. Darüber hinaus bietet das Unternehmen auch seine Dienste für Hausverwaltungen an. Geschäftsführender Inhaber des Fachbetriebs ist Dennis Garte, der nach jahrelanger Berufserfahrung den Schritt in die Selbstständigkeit wagte, wobei er über ein großes Netzwerk an Kooperationspartnern sowie angesehenen Handwerksfirmen verfügt....

  • Umland Nord
  • 04.12.24
  • 475× gelesen
WirtschaftAnzeige
Für weitere rund 84.000 Haushalte in Berlin baut die Telekom Glasfaserleitungen aus. | Foto: Telekom

Telekom vernetzt
Glasfaser-Internet hier im Bezirk

Aktuell laufen die Arbeiten zum Ausbau des hochmodernen Glasfaser-Netzes in Berlin auf Hochtouren. Neue Arbeiten starten nun auch in Alt-Hohenschönhausen, Fennpfuhl, Friedrichsfelde, Friedrichshain, Karlshorst, Kreuzberg, Lichtenberg und Rummelsburg. Damit können nun rund 84.000 Haushalte und Unternehmen einen direkten Glasfaser-Anschluss bis in die Wohn- oder Geschäftsräume erhalten. Die Verlegung der Anschlüsse wird im Auftrag der Telekom durchgeführt. Bis 2023 plant die Telekom insgesamt...

  • Alt-Hohenschönhausen
  • 11.12.24
  • 945× gelesen
KulturAnzeige
Blick in die Ausstellung über den Palast der Republik. | Foto: David von Becker
2 Bilder

Geschichte zum Anfassen
Die Ausstellung "Hin und weg" im Humboldt Forum

Im Humboldt Forum wird seit Mai die Sonderausstellung „Hin und weg. Der Palast der Republik ist Gegenwart“ gezeigt. Auf rund 1.300 Quadratmetern erwacht die Geschichte des berühmten Palastes der Republik zum Leben – von seiner Errichtung in den 1970er-Jahren bis zu seinem Abriss 2008. Objekte aus dem Palast, wie Fragmente der Skulptur „Gläserne Blume“, das Gemälde „Die Rote Fahne“ von Willi Sitte, Zeichnungen und Fotos erzählen von der damaligen Zeit. Zahlreiche Audio- und Videointerviews geben...

  • Mitte
  • 08.11.24
  • 1.862× gelesen
add_content

Sie möchten selbst beitragen?

Melden Sie sich jetzt kostenlos an, um selbst mit eigenen Inhalten beizutragen.