"Man musste doch leben"
Ostberliner erinnert sich an "Briefe aus der DDR", eine Aktion des englischen Senders BBC

Ulrich Zagorni hörte die Sendung "Briefe ohne Unterschrift" in seinem Ost-Berliner Wohnzimmer regelmäßig.  | Foto: Ulrike Kiefert
2Bilder
  • Ulrich Zagorni hörte die Sendung "Briefe ohne Unterschrift" in seinem Ost-Berliner Wohnzimmer regelmäßig.
  • Foto: Ulrike Kiefert
  • hochgeladen von Ulrike Kiefert

Handschriftlich, auf einer Schulheftseite, mit Tinte oder Bleistift: Rund 40 000 Briefe schrieben DDR-Bürger in den Westen. Ihre Kritik über die Mangelwirtschaft oder die fehlende Meinungsfreiheit lief im Radio. Auch der Ostberliner Ulrich Zagorni hörte sie.

„Eine verzweifelte Ostberlinerin kommt mit ein paar Worten zu Ihnen. Könnten Sie mir eventuell helfen, dass ich nach Westberlin kommen könnte? Denn ich war Grenzgängerin und habe in der Pfeifenfabrik, Hagelberger Straße 49 gearbeitet. Seit dem 13. August konnte ich nicht mehr dort arbeiten. Ich war nicht zur Registrierung aus Angst, ich würde sonstwo hinkommen. Denn mein Sohn ist mit Familie 1957 geflüchtet nach Westdeutschland. Lebe so in Verzweiflung, dass mir nicht weiter wird übrigbleiben, einen schecklichen Weg zu gehen, wenn ich nicht hier rauskomme.“ Diese Original-Zeilen und etwas mehr schreibt eine Ostberlinerin im Dezember 1961 anonym an die BBC in London. Ihr Brief wird später in der Nachrichtensendung „Programm für Ostdeutschland“ ausgestrahlt.

„Schreiben Sie uns, wo immer Sie sind, was immer Sie auf dem Herzen haben.“ Mit diesen Worten luden die Moderatoren der BBC-Radiosendung „Briefe ohne Unterschrift“ Menschen aus der DDR dazu ein, anonym an Deckadressen in West-Berlin über ihre Sorgen und Nöte, ihren Alltag oder einfach ihre politischen Ansichten zu berichten. Rund 40 000 Briefe erreichten die BBC zwischen 1949 und 1974. Viele thematisieren die Mangelwirtschaft, die meisten jedoch – als wichtige Zeitzeugnisse – die fehlende Meinungsfreiheit. Nicht wenige Schreiber riskierten viel damit. So wie der 16-jährige Rainer Brunst aus Dömnitz im heutigen Mecklenburg-Vorpommern. Er schreibt insgesamt drei Briefe. Schon den ersten fängt die Stasi ab, nach dem dritten Brief wird der Schüler wegen „staatsfeindlicher Verbindungsaufnahme“ und „staatsfeindlicher Hetze“ verhaftet. Ins Gefängnis kommt Brunst nicht, wird aber gegen seinen Willen in einem Lehrlingsheim untergebracht.

Über die Grenze schauen

In der DDR war die Sendung „Briefe ohne Unterschrift“ berühmt. Jedenfalls dort, wo man sie empfangen konnte. In Ost-Berlin zum Beispiel, im Lichtenberger Wohnzimmer von Ulrich Zagorni. Der heute 75-Jährige hörte von den Briefen im RIAS. „Die kamen immer zwischen den Schlagersendungen, wurden aber nicht komplett verlesen“, erinnert er sich. „Ich fand es damals gut, dass es diese Sendung gab, da konnte man ein bisschen über die Grenze schauen.“ Er selbst hatte sich nie getraut, einen solchen Brief zu schreiben. Denn Ulrich Zagorni hatte zwei Brüder im Westen. „Der eine war ziemlich oft bei uns.“ Die Familie musste also davon ausgehen, beobachtet zu werden. Und solch ein Brief wäre womöglich nicht folgenlos geblieben.

„Klar, die fehlende Meinungsfreiheit hat mich auch geärgert, ich war da auch oppositionell eingestellt", sagt Zagorni. "Aber ich wollte mich keinen Stasiverhören aussetzen.“ Schon wegen seines Berufes nicht. Der Diplom-Ingenieur arbeitete im EAB Elektro- und Anlagenbau Berlin. Eine Arbeit, die er liebte und die er nicht riskieren wollte. Auch wegen seiner Frau und den zwei Kindern nicht. „Man musste doch leben, ohne Arbeit ging das nicht.“ Selbst keinen solchen kritischen Brief geschrieben zu haben, bereut Ulrich Zagorni deshalb nicht. Aber er versteht, warum es so viele getan haben. Und er hat Respekt vor ihrem Mut. In Lichtenberg lebt Ulrich Zagorni heute noch. Hin und wieder erinnert er sich an die DDR. Seine inzwischen erwachsenen Kinder aber haben sie vergessen. Sie waren damals noch zu jung, um Briefe zu schreiben. 

Einige  „Briefe ohne Unterschrift“ zeigt das Museum für Kommunikation bis zum 10. Januar 2021.

Ulrich Zagorni hörte die Sendung "Briefe ohne Unterschrift" in seinem Ost-Berliner Wohnzimmer regelmäßig.  | Foto: Ulrike Kiefert
Rund 40 000 Briefe schrieben DDR-Bürger in den Westen.  | Foto: Ulrike Kiefert
Autor:

Ulrike Kiefert aus Mitte

following

Sie möchten diesem Profil folgen?

Verpassen Sie nicht die neuesten Inhalte von diesem Profil: Melden Sie sich an, um neuen Inhalten von Profilen und Orten in Ihrem persönlichen Feed zu folgen.

52 folgen diesem Profil

2 Kommentare

online discussion

Sie möchten kommentieren?

Sie möchten zur Diskussion beitragen? Melden Sie sich an, um Kommentare zu verfassen.

Beitragsempfehlungen

BauenAnzeige
2024 war Richtfest für die Grundschule in der Elsenstraße. | Foto: SenBJF
7 Bilder

Berliner Schulbauoffensive 2016-2024
Erfolgsgeschichte für unsere Stadt

Die Berliner Schulbauoffensive ist nach wie vor eines der zentralen Projekte unserer Stadt. Mit aktuell mehr als 44.000 neu entstandenen Schulplätzen setzt die Offensive ihre Ziele erfolgreich um. So wurden von 2016 bis 2023 bereits 5 Milliarden Euro in moderne Bildung investiert. Auch in den kommenden Jahren wird das derzeit größte Investitionsvorhaben für Schulen fortgesetzt. Die Offensive geht weiter und führt zu einer dauerhaft verbesserten schulischen Umgebung für unsere Schülerinnen und...

  • Charlottenburg
  • 13.12.24
  • 237× gelesen
WirtschaftAnzeige
Für weitere rund 180.000 Haushalte in Berlin baut die Telekom Glasfaserleitungen aus. | Foto: Telekom

Telekom baut Netz aus
Glasfaser-Internet hier im Bezirk

Ab Dezember starten die Arbeiten zum Ausbau des hochmodernen Glasfaser-Netzes in Borsigwalde, Friedenau, Frohnau, Hakenfelde, Lichtenrade, Lübars, Mariendorf, Neu-Tempelhof, Reinickendorf, Schöneberg, Spandau, Tegel, Waidmannslust, Wilhelmstadt und Wittenau. Damit können weitere rund 180.000 Haushalte und Unternehmen in Berlin einen direkten Glasfaser-Anschluss bis in die Wohn- oder Geschäftsräume erhalten. Die Verlegung der Anschlüsse wird im Auftrag der Telekom durchgeführt. Bis 2030 plant...

  • Borsigwalde
  • 11.12.24
  • 997× gelesen
WirtschaftAnzeige
Einstiegstüren machen Baden und Duschen komfortabler. | Foto: AdobeStock

GleichWerk GmbH
Seniorengerechte Bäder und Duschen

Seit März vergangenen Jahres ist die Firma GleichWerk GmbH in Kremmen der richtige Partner an Ihrer Seite, wenn es um den Innenausbau Ihres Hauses oder Ihrer Wohnung geht. Darüber hinaus bietet das Unternehmen auch seine Dienste für Hausverwaltungen an. Geschäftsführender Inhaber des Fachbetriebs ist Dennis Garte, der nach jahrelanger Berufserfahrung den Schritt in die Selbstständigkeit wagte, wobei er über ein großes Netzwerk an Kooperationspartnern sowie angesehenen Handwerksfirmen verfügt....

  • Umland Nord
  • 04.12.24
  • 651× gelesen
WirtschaftAnzeige
Für weitere rund 84.000 Haushalte in Berlin baut die Telekom Glasfaserleitungen aus. | Foto: Telekom

Telekom vernetzt
Glasfaser-Internet hier im Bezirk

Aktuell laufen die Arbeiten zum Ausbau des hochmodernen Glasfaser-Netzes in Berlin auf Hochtouren. Neue Arbeiten starten nun auch in Alt-Hohenschönhausen, Fennpfuhl, Friedrichsfelde, Friedrichshain, Karlshorst, Kreuzberg, Lichtenberg und Rummelsburg. Damit können nun rund 84.000 Haushalte und Unternehmen einen direkten Glasfaser-Anschluss bis in die Wohn- oder Geschäftsräume erhalten. Die Verlegung der Anschlüsse wird im Auftrag der Telekom durchgeführt. Bis 2023 plant die Telekom insgesamt...

  • Alt-Hohenschönhausen
  • 11.12.24
  • 1.141× gelesen
KulturAnzeige
Blick in die Ausstellung über den Palast der Republik. | Foto: David von Becker
2 Bilder

Geschichte zum Anfassen
Die Ausstellung "Hin und weg" im Humboldt Forum

Im Humboldt Forum wird seit Mai die Sonderausstellung „Hin und weg. Der Palast der Republik ist Gegenwart“ gezeigt. Auf rund 1.300 Quadratmetern erwacht die Geschichte des berühmten Palastes der Republik zum Leben – von seiner Errichtung in den 1970er-Jahren bis zu seinem Abriss 2008. Objekte aus dem Palast, wie Fragmente der Skulptur „Gläserne Blume“, das Gemälde „Die Rote Fahne“ von Willi Sitte, Zeichnungen und Fotos erzählen von der damaligen Zeit. Zahlreiche Audio- und Videointerviews geben...

  • Mitte
  • 08.11.24
  • 2.031× gelesen
add_content

Sie möchten selbst beitragen?

Melden Sie sich jetzt kostenlos an, um selbst mit eigenen Inhalten beizutragen.