Medizin als soziale Wissenschaft
Der Reformarzt Rudolf Virchow und die Anfänge des Krankenhauses Moabit
Neulich, beim offiziellen Start der Beratungsstelle für Menschen mit Sehbehinderung in Räumen der ehemaligen Medianklinik an der Birkenstraße, warf Finanzstaatssekretärin Margaretha Sudhof einen Blick zurück auf die Entstehungszeit der Anlage im Herzen Moabits und auf ihren Initiator, den berühmten Berliner Arzt und Gesundheitspolitiker Rudolf Virchow.
„Die Medizin ist eine soziale Wissenschaft, und die Politik ist nichts weiter als Medizin im Großen.“ Dieses sozialpolitische Credo seines Freundes und Kollegen, des Berliner Armenarztes Salomon Neumann, formulierte Rudolf Virchow (1821-1902) im Jahre 1848 in einem Beitrag für „Die medicinische Reform“. Die Wochenschrift, die vom 10. Juli 1848 bis zum 29. Juni 1849 erschien, war von Virchow auf dem Höhepunkt der Medizinalreform während der Revolution mitbegründet worden.
Seit 1859 bis zu seinem Tode war Rudolf Virchow Berliner Stadtverordneter. In dieser Eigenschaft setzte er sich insbesondere für eine bessere Versorgung des Industrieproletariats und den Bau von öffentlichen Krankenhäusern ein.
Armut und Krankheit gingen Hand in Hand. Berlin entwickelte sich seit den 1860er-Jahren zur größten Mietskasernenstadt der Welt. Anders als es der „Erfinder“ der Wohnblöcke mit bis zu 150 Meter Frontbreite und 75 Meter Tiefe, James Hobrecht (1825-1902), geplant hatte, nämlich Arbeiterslums wie aus London bekannt zu verhindern, wurden die armen Bevölkerungsschichten in den Mietshäusern zusammengepfercht. Aus der 900-Seelen-Vorstadt Moabit „mit gesunder Luft“ wurde bis 1871 ein Moloch mit 15 000 Einwohnern. In den heillos überfüllten, schlecht geheizten Wohnungen, in denen abgesehen von den ständigen Bewohnern zusätzlich noch sogenannte Schlafgänger im Schichtbetrieb ein- und ausgingen, fanden Typhus, Cholera, Tuberkulose und andere Seuchen ihre Opfer. Die Schwindsucht war nicht so romantisch, wie sie in Romanen und Opern verklärt wurde.
Seine Entstehung hat das Krankenhaus Moabit einer Notsituation zu verdanken. Die Baracken auf dem Tempelhofer Feld, die bislang als Seuchenstation genutzt wurden, wurden abgerissen. Das Kriegsministerium plante, auf dem Gelände „Felddienstübungen“ abzuhalten. Rudolf Virchow gehörte einer dreiköpfigen Kommission an, die 1872 rasch einen neuen Standort zu bestimmen hatte. Die Kommission wählte 75 900 Quadratmeter Ackerland bei Moabit. Es gab Widerstand. 1075 Moabiter protestierten gegen die Verlegung einiger Hundert Cholera-, Pocken- und Typhuskranker. Am Ende wurden in zwei Monaten für rund eine Million Reichsmark 16 Baracken mit jeweils 30 Betten, ein Verwaltungsgebäude, eine Koch- und Waschküche, ein Maschinenhaus, ein Portierhaus, zwei Schuppen und ein Leichenhaus errichtet. Am 7. Mai desselben Jahres fand die offizielle Einweihung statt.
Ideengeber für den Bautypus eines Barackenlagers war wahrscheinlich ein Sommerlazarett nahe der Charité im Krieg von 1866. Daraus entwickelte sich das für den Berliner Krankenhausbau typische System aus Pavillons aus festem Stein in einer parkähnlichen Anlage. Virchow-Büste vor dem Institut für Pathologie der Charité.
Autor:Karen Noetzel aus Schöneberg |
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