Vermächtnis der Poeten des Proletariats
Verein SchreibArt dokumentiert Geschichte der Zirkel Schreibender Arbeiter

Ray-Dany Mathiscig im Archiv Schreibende ArbeiterInnen. | Foto:  Dirk Jericho
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Sie waren das kreative Aushängeschild jedes größeren Betriebes. Mit den Zirkeln Schreibender Arbeiter wollte die SED-Führung in der DDR eine sozialistische Volkskunstbewegung fördern.

Einige gingen nach der harten Arbeit in den DDR-Fabriken auf eine Feierabendmolle in die Kneipe, andere trafen sich in den Literaturzirkeln der Betriebe, um ihre selbst geschriebenen Gedichte und Geschichten vorzutragen und mit den Mitgliedern im Zirkel Schreibender Arbeiter zu diskutieren. Sie waren die Poeten des Proletariats, die gemeinsam ihrer Lust am Schreiben frönten.

Schriftsteller als Zirkelleiter

Das größte Archiv dieser sozialistischen Schreibbewegung lagert im Industriesalon Schöneweide in der Reinbeckstraße 10. Der Verein SchreibArt sammelt dort in den ehemaligen Fabrikhallen Tausende Manuskripte und Veröffentlichungen der DDR-Schreiber, die in den Zirkeln von meist professionellen Schriftstellern wie zum Beispiel Christa Wolf, Brigitte Reimann oder Heiner Müller angeleitet wurden. „Für die Künstler war das ein Job, für den sie Honorar bekamen“, sagt Ray-Dany Mathiscig vom Verein SchreibArt. Die Kulturwissenschaftlerin hat in den 1980er-Jahren mit dem DDR-Liedermacher Gerhard Gundermann, der später als singender Baggerfahrer bekannt wurde, im Singeklub Hoyerswerda gesungen.

„Greif zur Feder, Kumpel!“ hieß die Losung der Staatspartei SED im typischen Klassenkampf-Duzer-Stil. Nach der Bitterfelder Konferenz 1959 entstanden über 300 Literaturzirkel. Zuletzt sollen es in den Betrieben an die 600 Zirkel gewesen sein, deren Mitglieder in ihren literarischen Ergüssen über das Leben, die Liebe oder die Natur reimten, sich aber auch kritisch mit der sozialistischen Wirklichkeit auseinandersetzten. Die Zirkel waren relativ frei in ihrer Arbeit. Propagandavorgaben von den SED-Oberen habe es keine gegeben, sagt Dolores Pieschke von SchreibArt. Die schreibenden Arbeiter wollten mit ihrer Kritik an den Missständen, wenn sie so etwas thematisierten, helfen, Sachen zu verbessern, so die ehrenamtliche Archivleiterin. „Es gibt zum Beispiel viele Texte, die die Mangelwirtschaft und Versorgungslage satirisch auf die Spitze nehmen“, so Pieschke.

Kein Hort der Opposition

Horte der Opposition waren die Schreibzirkel auf jeden Fall nicht. Die Mitglieder waren keine DDR-Gegner. Wer den Staat ablehnte, hatte keinen Bock auf die Zirkel und auch kein Interesse, an staatlich organisierten Kulturveranstaltungen mitzuwirken. Und natürlich hat die SED-Diktatur darauf geachtet, was die Poeten in den Zirkeln so produzieren und was veröffentlicht wird. In den Schreib- und Lesezirkeln waren meistens auch Leute von „Horch und Guck“, wie in in der DDR Stasispitzel genannt wurden. In Halle habe mal ein Schüler ein Gedicht über eine Blume an der Mauer geschrieben, nennt Pieschke ein Beispiel. Das war natürlich nicht gern gesehen im Mauerstaat und führte zu Diskussionen mit der für Schülerzirkel zuständigen Abteilung Volksbildung. Dem jungen Zirkelleiter hat die Einmischung der Staatsmacht nicht gepasst, er ist aus Protest zurückgetreten. „Mehr passiert ist nicht, das Blumengedicht ist dann so erschienen“, sagt Pieschke.

Sie schätzt, dass es in der DDR etwa 6000 schreibende Arbeiter gab. Nach der Wende wurden viele DDR-Betriebe geschlossen und die Zirkel aufgelöst. In grauen Pappkisten lagern etwa 20 000 Dokumente im Archiv Schreibende Arbei-terInnen. Nochmal so viele Manuskripte und Veröffentlichungen haben die Ehrenamtlichen vom Verein SchreibArt noch zu sortieren. Von den Betrieben wurden Anthologien herausgegeben. Die Geschichten, Reportagen und Gedichte der Laienautoren wurden in Betriebszeitungen, auf Wandzeitungen, in der regionalen Presse und in Magazinen der DDR-Verlage veröffentlicht. Es gab Lesungen in den Mittagspausen der Brigaden oder in Kulturhäusern.

Die sozialistischen Literaturveranstaltungen sollten auch zur Entwicklung gebildeter Staatsbürger im kommunistischen Sinne beitragen. Das Archiv Schreibende ArbeiterInnen sei ein „Schatz“ dieser DDR-Schreibbewegung, wie Leiterin Dolores Pieschke sagt. Studenten und Wissenschaftler recherchieren dort genauso wie Angehörige, die etwas vom schreibenden Opa als wortgewandten Werktätigen in der DDR suchen.

Größere Räume gesucht

Das 1992 gegründete Archiv Schreibende ArbeiterInnen des Vereins SchreibArt sucht dringend größere Räume. Die ehrenamtlichen Mitstreiter brauchen auch eine Förderung, um die Arbeit sicher fortführen zu können. Um mehr über die verschwundenen Zirkel zu erfahren, freut sich der Verein über alles, was er für das Archiv bekommen kann: Manuskripte, Bücher, Bildmaterial, Zeitschriften, Protokolle, Verträge, Berichte, Urkunden, Noten, Gedichte und Geschichten. „Kurz: Die gesamte Originalliteratur aus den Zirkeln Schreibender Arbeiter und alle weiterführenden Schriften über diese Bewegung sowie Hinweise auf noch arbeitende Zirkel“, heißt es.

SchreibArt, Archiv Schreibende ArbeiterInnen im Industriesalon Schöneweide, Reinbeckstraße 10, E-Mail: schreibart-archiv@gmx.de, Tel. 0176 54 62 83 73.

Autor:

Dirk Jericho aus Mitte

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