Zwangsarbeiterlager des Bezirksamtes Wilmersdorf in Wilhelmsaue 40
Neue Dokumente bestätigen Existenz und Ort des Lagers

Abb. 1: Provisorische Gedenktafel am Haus Wilhelmsaue 40
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  • Abb. 1: Provisorische Gedenktafel am Haus Wilhelmsaue 40
  • hochgeladen von Michael Roeder

Fast auf den Tag genau findet seit fünf Jahren unter Berufung auf die Wissenschaft ein Disput darüber statt, ob tatsächlich in Wilhelmsaue 40 das Zwangsarbeiterlager des Bezirksamtes Wilmersdorf gelegen hat. Drei neue Dokumente (Nr. 2, 3 und 4) sind jetzt bekannt geworden.

Im folgenden werden zunächst alle sechs Dokumente in zeitlicher Reihenfolge unter dem Gesichtspunkt vorgestellt, welche Aussagen sie zum Gegenstand des Disputs machen; als Beleg folgt jeweils ein „Auszug" aus dem Dokument; die Fundstellen sind am Ende aufgelistet. Anschließend findet eine Zusammensicht der Aussagen statt, und am Ende ein Blick auf sonstige Bedenken und der Hinweis auf einen 2 ½ Jahre alten Beschluß der Bezirksverordnetenversammlung, der immer noch seiner Umsetzung harrt .


Die sechs Dokumente


Dokument 1: Liste des Gesundheitsamtes Wilmersdorf (30.11.1942)     
Die Bezirksverwaltung Wilmersdorf betreibt in Wilhelmsaue 40 ein Ausländerarbeitslager mit 18 Arbeitern verschiedener Nationalität.

„Gesundheitsamt
Berlin-Wilmersdorf
Bezeichnung u. Lage                     Zahl und Nationalität
des Lagers                                       der Arbeiter                                                          
Bez.Verw.     Wilmersdorf             18       versch."
Wilmsdf.       Wilhelmssaue 40

Dokument 2: Gefangenenakte K. (14.7.1943)
Der polnische Arbeiter K. wohnt im Ausländerlager Wilhelmsaue 39/40.

„Der Bezirksbürgermeister
des Verwaltungsbezirks Wilmersdorf der Reichshauptstadt Berlin
Berlin-Wilmersdorf, 14. Juli 1943.
Postamt Berlin W 15, Kaiserallee 1-12
Ausländerlager:Bln.-Wilm.
Wilhelmsaue 39/40
In der Strafsache gegen den polnischen Arbeiter Stanislaw
K. teile ich Ihnen mit, daß sich derselbe erst in ca.
10 bis 14 Tagen melden kann, da er z. Zt. krank ist."

Dokument 3:  Generalstaatsanwaltsakte zu Jan H. (5.8.1943)
Der Pole Jan H. war, bevor er in Untersuchungshaft kam, wohnhaft in Wilhelmsaue 39/40. Dort war ein Lager („Lagerkamerad“). Zu den Aufgaben der Lagerinsassen gehörte es, von bombengeschädigten Häusern Schutt abzufahren.

„An das
A m t s g e r i c h t (früher Schöffengericht)
Berlin

Anklage
gegen
den Arbeitet Jan H., geboren am 6. März 1914 in Zagacie
Generalgouvernement, zuletzt wohnhaft in Berlin-Wilmersdorf, Wilhelms-
aue 39/40, Pole, katholisch, verheiratet, nicht vorbestraft,
zur Zeit in Untersuchungshaft in der Untersuchungshaftanstalt
Moabit.
I c h  k l a g e  i h n  a n
in Berlin im ersten Vierteljahr 1943
a) fremde bewegliche Sachen, von denen er wußte
daß sie durch eine strafbare Handlung erlangt
waren, an sich brachte,
indem er Geld, das sein Lagerkamerad D.
Beim Schuttabfahren von bombengeschädigten
Häusern gefunden und unterschlagen hatte, an sich
nahm,"

Dokument 4: Gefangenenakte Jan H. (29.10.1943)
Lagerleiter Giminski teilt Jan H. mit, daß sich seine Sachen nunmehr auf dem Polizeirevier 151 in der Berliner Straße in Wilmersdorf befinden.

„Der Bezirksbürgermeister
des Verwaltungsbezirks Wilmersdorf der Reichshauptstadt Berlin

Wie ich von den Lagerinsassen
unterrichtet bin, sind Ihre
Sachen von der Polizei abgeholt
worden. Pol.Rev. 151.
Wilmersdorf Berlinerstr.
Giminski
Lagerleiter"

Dokument 5: Dienstanweisung des Stellvertretenden Bezirksbürgermeisters von Wilmersdorf (30.4.1944 - Abb. 2)
Der Stellvertretende Bezirksbürgermeister Dr. Thümer* des Verwaltungsbezirks Wilmersdorf legt in einer Dienstanweisung fest, daß er allein den Arbeitseinsatz der Ausländer des städtischen Ausländerlagers für Arbeitsleitungen im Verwaltungsinteresse bestimmt. Dem Lagerleiter Giminski gibt er in diesem Zusammenhang eine Anweisung.

„Der Bezirksbürgermeister
des Verwaltungsbezirks Wilmersdorf
der Reichshauptstadt Berlin

Betrifft: Einsatz von Ausländern des städtischen Ausländerlagers für
Arbeitsleistungen im Verwaltungsinteresse.

Ich behalte mir daher den Arbeitseinsatz der Ausländer selbst
vor. Anträge auf vorübergehende Zuweisung solcher Kräfte zum Arbeits-
einsatz sind künftig mindestens drei Tage vor eintretendem Bedarf
Herrn Stadtoberinspektor G. Zur Einholung meiner
Entscheidung vorzulegen.
Der Lagerleiter G i m i n s k i ist angewiesen, die
Ausländer weiterhin nur nach den Weisungen des letztgenannten
Beamten zur Arbeit einzuteilen.
             In Vertretung:
      Dr. T h ü m e r"

Dokument 6: „Ausländer, die in Berlin polizeilich gemeldet waren“; Liste des 151. Polizeireviers, Berlin-Wilmersdorf, Berliner Straße 40 (12.1.1946)
Am 24.12.1942 waren (mindestens) sieben Personen mit „jugoslawischer“ Staatsangehörigkeit in Wilhelmsaue 39/40 zugezogen. (Die Seite „ist nicht zur Veröffentlichung freigegeben“.)

Zusammensicht der Aussagen

Die Aussage von Dokument 1 (ab jetzt nur Nummer des Dokuments), daß es in der Wilhelmsaue ein Ausländerarbeitslager gibt, wird in 2 und 3 bestätigt. Die Hausnummer des Lagers wird mit 40 bzw. 39/40 angegeben. Für diejenigen, die bisher aus wissenschaftlichen Bedenken die Existenz von „Wilhelmsaue 40“ in Frage gestellt hatten, sollte nunmehr nachvollziehbar sein, daß es sich bei „40“ um die verkürzte, eventuell sogar schlampig zu nennende Version von „39/40“ handelt.

Dieses Lager bestand mindestens von November 1942 bis April 1944 (1, 5). Unter seinen Bewohnern waren Menschen aus Polen und „Jugoslawien“ (2, 3, 6). Zu ihren Aufgaben gehörte es, den Schutt von zerbombten Häusern abzufahren (3). Leiter des Lagers war Giminski (3 mit 4). Daraus folgt weiter, daß es sich bei dem in der Dienstanweisung (5) genannten Lager mit dem Lagerleiter „Giminski“ um das Lager in der Wilhelmsaue handelte. Da das Dokument von diesem Lager als dem Lager spricht, liegt es nahe, daß der Verwaltungsbezirk Wilmersdorf nur dieses eine Lager betrieb.

Weiter wird dieses Lager in der Dienstanweisung „städtisches Ausländerlager für Arbeitsleitungen im Verwaltungsinteresse“ genannt, über den Einsatz von dessen Bewohnern sich der Stellvertretende Bezirksbürgermeister des Verwaltungsbezirks Wilmersdorf ausdrücklich die alleinige Entscheidung vorbehielt. Damit wird der Eintrag in der ersten Spalte des Schreibens des Gesundheitsamtes (1) bestätigt, wo als Betreiber des Lagers die „Bez.Verw. Wilmerdf.“ genannt wird: In der Wilhelmsaue 39/40, verkürzt 40, lag tatsächlich das vom Bezirksamt Wilmersdorf betriebene Ausländerarbeits- bzw. Zwangsarbeiterlager.

Sonstige wissenschaftliche Bedenken

Es sollten nunmehr genug eindeutige historische Zeugnisse vorliegen, um die vor fünf Jahren gemachte Aussage bestätigt zu finden. Falls doch noch auf Fragen rekurriert wird wie a) War denn das Bezirksamt Eigentümer des Grundstücks?, b) Durfte das Bezirksamt überhaupt ein eigenes Lager betreiben? oder c) Das Lager befindet sich nicht in den erhaltenen Unterlagen der von Generalbauinspektors für die Reichshauptstadt erfaßten Lager, so wäre zu antworten:
zu a) Typischerweise fallen bei Miete, Pacht und ähnlichen Rechtsverhältnissen Eigentümer und Besitzer auseinander; der Hinweis auf Eigentumsrechte ändert folglich nichts an der Art und Weise, wie das Grundstück vom Besitzer tatsächlich genutzt wird.
Zu b) Typischerweise fallen im Leben – auch im NS-Staat – das, was erlaubt ist, und das, was tatsächlich getan wird, gelegentlich auseinander.
Zu c) Nach der Lebenserfahrung werden nicht alle Sachverhalte immer ordnungsmäßig erfaßt bzw. sind nicht immer alle Unterlagen erhalten – eine für Historiker typische Erfahrung. Oder anders ausgedrückt: Die in obigen Unterlagen dokumentierten Tatsachen werden nicht dadurch inexistent, weil sie in bestimmten Listen nicht auftauchen.

Politische Umsetzung

Nunmehr kann der politische Wille, der bereits am 13.7.2017 im Beschluß der Bezirksverordnetenversammlung „Gedenktafeln für die Zwangsarbeiter/innen in Wilmersdorf, in der Wilhelmsaue und in Charlottenburg“ (Drucksache 0121/5) Ausdruck fand, umgesetzt werden. Es heißt dort (auszugsweise):

Das Bezirksamt wird beauftragt, eine Gedenktafel an der Wilhelmsaue in Wilmersdorf anzubringen, die an das Zwangsarbeiterlager des Bezirksamtes Wilmersdorf sowie aller Zwangsarbeiterlager in Wilmersdorf während des Zweiten Weltkrieges erinnert. [ebenso für Charlottenburg]
Diese Würdigung soll stellvertretend für alle Zwangsarbeiterlager im Bezirk stehen
."

Einen Textvorschlag gibt es bereits: die Inschrift der provisorischen Gedenktafel, die im Dezember 2017 am Haus enthüllt wurde - siehe Abb 1.

* „Ab Herbst 1943 … leitete Thümer das Bezirksamt Wilmersdorf bis zum Kriegsende.“ (Karl-Heinz Metzger u.a., Kommunalverwaltung unterm Hakenkreuz. Berlin-Wilmersdorf 1933-1945, Berlin (Ed. Hentrich) 1992)

Sehr herzlichen Dank an Frau Dr. Katarzyna Woniak für den Hinweis auf die Dokumente 2, 3 und 4! Frau Dr. Woniak beschreibt die Geschichte des darin erwähnten Jan H. anhand seiner Akte bei der Generalstaatsanwalt in ihrem Buch „Zwangswelten. Emotions- und Alltagsgeschichte polnischer ‚Zivilarbeiter' in Berlin 1939-1945“, das im April 2020 erscheint.

Fundstellen der Dokumente
– Dokument 1: „Ärztliche Versorgung der Ausländerarbeitslager“ [Jahreswechsel 1942/43]; daraus: Liste des Gesundheitsamtes Berlin-Wilmersdorf vom 30.11.1942 – LAB C Rep. 375-01-08 Nr. 7818/A 06
– Dokument 2: Gefangenenakte zu Władysław K. – LAB A Rep. 370, Sign. 1696; hier: Bl. 12r
– Dokument 3: Akte bei Generalstaatsanwalt zu Jan H. – LAB Rep. 358-02, Sign. 83532; hier: Microfiche S. 763
– Dokument 4: Gefangenenakte zu Jan H. – LAB A Rep. 369, Sign. 1827; hier: Bl. 10v (Innenseite eines Faltbriefes an Jan H.)
– Dokument 5: Dienstanweisung des Bezirksbürgermeisters des Verwaltungsbezirk Wilmersdorf – Archiv Museum Charlottenburg-Wilmersdorf 3962-1
– Dokument 6: „Ausländer, die in Berlin polizeilich gemeldet waren“; hier: Liste des 151. Polizeireviers, Berlin-Wilmersdorf, Berliner Straße 40, Bl. 243 „Staatsangehörigkeit (Jugoslawien)“ – Deutsche Dienststelle (WASt)

Abb. 1: Provisorische Gedenktafel am Haus Wilhelmsaue 40
Abb. 2: Dienstanweisung des Stellv. Bezirksbürgermeisters (Wiedergabe mit freundlicher Genehmigung des Archivs des Museums Charlottenburg-Wilmersdorf)
Autor:

Michael Roeder aus Wilmersdorf

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