funktionale Analphabeten
„Mein Kopf will immer mehr Futter“

Tina Fidan und Gerd Prange haben nicht richtig lesen und schreiben gelernt, aber nie aufgegeben. Jetzt freuen sie sich über ihre Erfolge. | Foto: Ulrike Martin
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Für die meisten Menschen ist es selbstverständlich, lesen und schreiben zu können. Wie aber fühlt es sich an, wenn diese Kenntnisse fehlen oder nur mangelhaft beherrscht werden? Dietrich Eckardt ist einer, der darüber berichten kann. Der Pädagoge arbeitet für das Mehrgenerationenhaus Phoenix in der Grundbildung und Alphabetisierung.

Erwachsene Berufstätige, die nur einfache Wörter oder sehr kurze Sätze lesen können, werden funktionale Analphabeten genannt. Rund 350 000 davon gibt es nach Schätzungen in Berlin. „In Deutschland sind es etwa 7,5 Millionen“, sagt Eckardt. „Diese Zahl verdeutlicht, dass es sich hier nicht um Einzelschicksale handelt, sondern um ein gesamtgesellschaftliches Problem.“ Diese Problematik werde aber nicht ausreichend wahrgenommen. Hinzu kommt, dass die Betroffenen ihre Schwäche verdrängen, sich dafür schämen, Tricks entwickeln, um sich nicht outen zu müssen.

„Das geht so weit, dass sich manche die Hand verbrennen oder sogar brechen“, erzählt Tina Fidan, Jahrgang 1964. Die Zehlendorferin gehört zu denen, die nicht richtig lesen und schreiben können, sich aber damit nicht zufrieden geben.

Tinas Lebensweg war alles andere als einfach. Wegen Vernachlässigung in der Familie – der Vater war Alkoholiker – kam sie mit drei Jahren ins Heim. In der Vorschule hieß es dann, sie könne nicht richtig lesen und schreiben, deshalb war die nächste Station ein christliches Heim für geistig und körperlich behinderte Kinder. „Ich entwickelte mich zur Einzelgängerin“, berichtet Tina. In der Schule des Heims wurden die Kinder gezwungen, Psalmen auswendig zu lernen. „Beim Frühstück mussten wir Bibelstellen aufsagen“. Mit zehn Jahren lernte sie eine Art Mutter auf Zeit kennen, die sie an den Wochenenden nach Haus in ihre Familie mitnahm. „Sie brachte mir das Alphabet bei.“ Im Alter von zwölf Jahren kam sie zu ihrer leiblichen Mutter, die einen neuen Mann hatte. Tina wurde auf eine Sonderschule geschickt, dort fühlte sie sich unterfordert. „Irgendwann habe ich den Anschluss verpasst.“

Mit 18 hat Tina geheiratet. Richtig lesen und schreiben konnte sie aber immer noch nicht. Mit 25 schließlich meldete sie sich auf eine vermeintliche Zeitungsannonce für einen Job. „Es war aber eine Anzeige für eine Abendschule, in der man den Hauptschulabschluss machen konnte.“ Eine Freundin überredete sie, mitzumachen. „Jeden Tag habe gelernt, am nächsten Morgen war dann alles wieder weg“, erinnert sich Tina. Den Abschluss hat sie geschafft: „Ich habe alles auswendig gelernt.“

2010 hat Tina einen neuen Schritt unternommen, Kurse belegt, die vom Jobcenter bewilligt wurden, weiter gelernt. Durch Osteoporose ist sie derzeit zu einer Zwangspause gezwungen. Was aber nicht weiter stört: „Ich lerne jetzt am PC, denn ich bin noch unsicher. Ich will aber perfekt werden, und mein Hirn braucht mehr Futter.“ Ihr größter Erfolg: „Im September 2018 habe ich gemerkt, dass die gelernten Wörter jetzt endlich in meinem Kopf bleiben.“

Für Dietrich Eckardt ist klar: „Es gibt extreme Lebenssituationen, die Menschen klein machen, sodass sie ihr Potenzial nicht ausschöpfen können.“ Er ist davon überzeugt, dass Tina mit entsprechender Unterstützung einen Beruf hätte erlernen können.

Gerd Prange ging eher den „normalen“ Weg eines funktionalen Analphabeten: Er hatte sechs Geschwister, die Eltern konnten nicht gut lesen und schreiben, das Jugendamt schickte ihn auf die Sonderschule, dort saß er bewusst in der letzten Reihe, beim Diktat hat er abgeschrieben. Die Lehrer setzen noch den Rohrstock ein. Gerd stürzte sich auf den Sport, liebte Fußball und Eishockey. In den Ferien kam er zu Aufenthalten nach Schweden. Und dort lernte er spielend leicht die Landessprache.

Nach der Schule begannen die Alkoholprobleme. Eine Ausbildung zum Gas- und Wasser-Installateur scheiterte: „Ich konnte ja weder richtig lesen noch schreiben.“ Gerd arbeitete schließlich mehr als 20 Jahre in einer Reinigung, im Garten- und Landschaftsbau und in einer Recycling-Firma. In keinem der Jobs fiel seine Schwäche auf. Vor zehn Jahren kam dann der Durchbruch. Seine fünfjährige Tochter begann ihm vorzulesen. „Von einem auf den anderen Tag hörte ich mit dem Alkohol auf, bin zum Jobcenter und bat um Hilfe.“ Zum Lernen ging er zum Arbeitskreis Orientierungs- und Bildungshilfe (AOB) in Kreuzberg, den er seit rund neun Jahren zwei Mal pro Woche besucht. „Meine Kenntnisse im Lesen und Schreiben schätze ich inzwischen auf 50 Prozent ein“, sagt er.

Als Botschafter unterwegs

Weitermachen will Gerd auf jeden Fall. Genauso wichtig ist ihm, seine Erfahrungen zu vermitteln, deshalb ist er als Lerner-Experte mit dem Alfa-Mobil vom Bundesverband Alphabetisierung und Grundbildung unterwegs, das Werbung für Lese- und Schreibkurse macht. Auch Tina will künftig mitfahren. Die beiden wollen als Botschafter zeigen, dass es nie zu spät ist, um mit dem Lernen anzufangen.

Dietrich Eckardt leitet die Beratungskurse, die das Mehrgenerationenhaus Phoenix in Kooperation mit der Volkshochschule Steglitz-Zehlendorf anbietet. Sie sollen Betroffenen und Angehörigen von funktionalen Analphabeten helfen, sich über Möglichkeiten der Weiterbildung zu orientieren. Eckardt ist erreichbar unter ¿0177-892 12 89 und per E-Mail an d.eckardt@snafu.de.

Autor:

Ulrike Martin aus Neukölln

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