„Das ist gelebte Inklusion“
Berlin-Chemie bildet viele junge Leute aus und beschäftigt auch Menschen mit geistiger Behinderung

Emma Nelis absolviert eine Ausbildung zur Chemielaborantin. Die 22-Jährige befindet sich gerade im zweiten Lehrjahr. | Foto:  Philipp Hartmann
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  • Emma Nelis absolviert eine Ausbildung zur Chemielaborantin. Die 22-Jährige befindet sich gerade im zweiten Lehrjahr.
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Wer den Glienicker Weg entlangfährt, kommt direkt an einem der wichtigsten Unternehmen im Bezirk vorbei: der Berlin-Chemie AG. Seit 1890 wird am Adlershofer Standort geforscht und produziert. Darunter befinden sich Zäpfchenprodukte, Tabletten und nicht-sterile Flüssigkeiten wie Hustensäfte, die in mehr als 90 Länder exportiert werden.

Für die Region Berlin-Brandenburg ist Berlin-Chemie, seit 1992 Tochtergesellschaft der Menarini-Gruppe, des größten italienischen Pharmaunternehmens in Familienbesitz in Florenz, ein wichtiger Arbeitgeber. In Großbeeren befindet sich die Logistik, in Britz eine Produktionsstätte. Der Hauptsitz inklusive Forschung und Produktion liegt in Adlershof. An den drei Standorten in Berlin und Brandenburg beschäftigt Berlin-Chemie zusammen 1500 Mitarbeiter. Darüber hinaus unternimmt das Unternehmen viel für die Ausbildung junger Menschen, bietet zum Beispiel ein duales Studium an. Insgesamt werden zirka 80 Auszubildende über einen Zeitraum von drei Lehrjahren hinweg beschäftigt, darunter 28 Frauen und 52 Männer in acht verschiedenen Ausbildungsberufen wie Chemielaboranten, Pharmakanten, Industriekaufleute, Mechatroniker und Industriemechaniker. Regelmäßig wird das Unternehmen von der Industrie- und Handelskammer Berlin für seine „hervorragende Leistung in der Berufsausbildung“ ausgezeichnet.

Sebastian Jastram (rechts) leitet die geschützte Betriebsabteilung von Berlin-Chemie, in der Menschen mit geistigen und teilweise körperlichen Behinderungen angestellt sind. Laut Vorstandsmitglied Dr. Christian Matschke werden alle nach Tarif bezahlt. | Foto: Philipp Hartmann
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„Das Hauptproblem ist, geeignete Leute zu finden. Der Fachkräftemangel ist eine der größten Herausforderungen, die wir gerade haben in der Stadt“, sagt Vorstandsmitglied Dr. Christian Matschke, der diesbezüglich viel Nachholbedarf im Berliner Schul- und Bildungssystem sieht. „Wir holen uns viele Azubis aus dem Umland, aus Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommern.“ Von noch viel weiter entfernt kommt Emma Nelis. Der Arbeitsplatz der 22-Jährigen befindet sich im Rohstofflabor der Qualitätskontrolle. Einen weißen Kittel, Handschuhe und eine Schutzbrille zu tragen, ist für sie Pflicht. Die angehende Chemielaborantin ist in Baden-Württemberg aufgewachsen. Vor drei Jahren zog es sie nach Berlin, weil ihr die Stadt gefällt. In der Bewerbungsphase stieß sie damals schnell auf ihren heutigen Arbeitgeber.

Zwei Mitarbeiter der geschützten Betriebsabteilung bei der Arbeit. Die Falzmaschine wirft die Beipackzettel für die Medikamente aus. | Foto: Philipp Hartmann
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„Das Interesse an Chemie kam bei mir in der Mittelstufe“, erzählt sie. Nachdem sie das erste Lehrjahr im Berufsbildungszentrum Chemie am Adlergestell verbracht hat, befindet sie sich derzeit im zweiten Lehrjahr. An ihrem Arbeitsalltag bei Berlin-Chemie gefällt ihr vor allem die Vielseitigkeit. Zu ihren Aufgaben gehört unter anderem, täglich die Augenduschen zu testen, die Laborgeräte in Betrieb zu nehmen sowie Analysen mit den unterschiedlichen Rohstoffen durchzuführen. Dabei hat sie immer erfahrene Labormitarbeiter an ihrer Seite. Während heutzutage viele Menschen im Laufe ihrer Karriere immer wieder das Unternehmen wechseln, kann sie sich mit dem Gedanken, ihr gesamtes Berufsleben bei Berlin-Chemie zu verbringen, anfreunden. „Ich glaube, man arbeitet besser, wenn man die Leute um sich herum gut kennt und aufeinander eingespielt ist“, sagt sie.

Eingespielt ist auch die Arbeit in der geschützten Betriebsabteilung, eine Besonderheit des Pharmaunternehmens, denn dort arbeiten Menschen mit geistigen und teilweise körperlichen Behinderungen. Die Abteilung besteht seit 45 Jahren, wurde damals aus der Belegschaft heraus gegründet. Zum Start waren es sieben Beschäftigte und zwei Sozialarbeiter. Heute arbeiten in der Abteilung rund 30 Menschen mit Behinderung, betreut von einem achtköpfigen Leitungsteam, zu dem vier Sozialarbeiter gehören.

Am Hauptsitz im Glienicker Weg 125 produziert Berlin-Chemie Zäpfchenprodukte, Tabletten und nicht-sterile Flüssigkeiten. | Foto: Berlin-Chemie AG
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„Wir reden hier nicht von einer Behindertenwerkstatt“, betont Christian Matschke. Die Beschäftigten sind ihm zufolge alle nach Tarif angestellt, profitieren von sämtlichen Sozialleistungen und Lohnerhöhungen und verfügen über unbefristete Arbeitsverträge. In der Pharmazeutischen Industrie ist dies seines Wissens nach einzigartig. 2018 gewann die vom Landesamt für Gesundheit und Soziales zertifizierte geschützte Betriebsabteilung von Berlin-Chemie den ersten Platz beim Responsible-Care-Wettbewerb des Verbands der Chemischen Industrie (VCI).

Zu den Aufgaben der Abteilung gehören unter anderem das Falzen von Beipackzetteln sowie die Hand- und Umkonfektionierung von primärverpackten Arzneimitteln. Außerdem werden dort Schulungsmaterialien bearbeitet und ein Teil der Post des Unternehmens abgewickelt.

Das Herz auf der Zunge

„Die Leute kommen so motiviert zur Arbeit. Da muss man nichts tun. Ich muss eher dafür sorgen, dass sie ihren Urlaub nehmen und bei Krankheit zu Hause bleiben“, berichtet Sebastian Jastram, Leiter der geschützten Betriebsabteilung, in die er vor drei Jahren auf eigenen Wunsch wechselte. Für die Angestellten mit geistiger Behinderung sei er so etwas wie der „Papa“. Berührungsängste habe er nie gehabt.

Der Hauptsitz von Berlin-Chemie befindet sich am Glienicker Weg 125. Seit 1890 wird am Adlershofer Standort geforscht und produziert. | Foto: Philipp Hartmann
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Der Unterschied im Vergleich zu Menschen ohne eine Behinderung sei, dass seine Mitarbeiter Kritik ganz offen aussprechen. „Das Herz liegt auf der Zunge“, sagt Sebastian Jastram. Damit müsse man umgehen können. Die Sozialarbeiter kümmern sich vor allem um die privaten Sorgen und Nöte. „Herausforderungen hat man jeden Tag, aber das ist gelebte Inklusion.“

Autor:

Philipp Hartmann aus Köpenick

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