Im Museum des Lebens
"Polyrama" sammelt nicht erzählte Lebensgeschichten und macht sie sinnlich erfahrbar

Die Gründerinnen Sadaf Farahani und Anna Chrusciel.  | Foto: Felix Pasternak
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Vor 45 Jahren verließ Esther getrieben von der Liebe zu ihrem Partner Israel und zog nach Deutschland. Doch ihre zutiefst prägende Vergangenheit im jüdisch-arabischen Ghetto, auf der Flucht vor Terrorismus und aus einem Dasein inmitten einer Strömung der verschiedenen Kulturen, Sprachen und Lebensweisen hat ihre Erinnerung nie verlassen.

"Wir haben alle Schimpfwörter auf allen Sprachen intubiert bekommen", sagt sie heute humorvoll. Was sie meint, ist viel mehr als nur das Vulgäre: Es ist die bedingungslose Offenheit und das Miteinander ohne Vorurteile. Ihre Geschichte hat Esther für "Polyrama" noch einmal vollständig aufgekrempelt.

Am 24. März hat "Polyrama – ein Museum für Lebensgeschichten" seine Tür erstmals geöffnet. Das Museum am Stuttgarter Platz 2 ist ein lebendiges Archiv der Erlebnisse und Erzählungen. Was rein auditiv begann, entwickelt sich dort weiter zu einer vielschichtigen Sinneserfahrung.

Auf 60 Quadratmetern lassen sich die Geschichten der zahlreichen Erzähler und Erzählerinnen multimedial nacherleben. Denn genau das ist die Funktion von "Polyrama": Menschlich Durchlebtes mit all seinen Elementen präsent und greifbar machen. Das Puzzle, aus dem eine Geschichte besteht, darf in seinen Einzelteilen ergründet werden. In Esthers Fall sind das unter anderem ihr Gebetsbuch und ihr Mörser, mit dem sie im Kibbuz in Israel Essenszutaten zerkleinerte, weil ihr das Kleiderwaschen nicht lag.

Erzählerin Esther musste sich vielen Wendungen stellen. | Foto: Felix Pasternak
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Dafür gibt es je Geschichte einen Behälter mit persönlichen Gegenständen, die ihren ganz speziellen Platz in der Erzählung einnehmen. "Im Museum werden durch die Objekte Hintergründe eröffnet", erklärt Mitgründerin Anna Chrusciel. Es könne sich dabei um Fotos, Düfte und alles nur erdenkliche weitere handeln, das einen Gehalt für die erlebte Geschichte besitzt. Mit diesem etwa schuhkartongroßen Behältnis werden Besucher und Besucherinnen ausgestattet, um den tastbaren Teil zu erfühlen. "Emotional hätte ich es ohne die Gegenstände, ohne die damit einhergehende Kultur nicht geschafft", erzählt Esther, angesprochen auf die Frage, inwieweit die Dinge in ihrem Behälter unverzichtbar sind.

Kern des jeweiligen erzählerischen Inhaltes ist aber nach wie vor das Audiomaterial – aufgenommen in einem persönlichen Gespräch. So fand "Polyrama" 2021 seine Anfänge. Die Gründerinnen Sadaf Farahani und Anna Chrusciel sind beide Kulturarbeiterinnen. Sie interviewen Menschen, die von ihren einzigartigen Erfahrungen offen berichten. Marginalisierte Gruppen hervorzuheben und ihre gesellschaftliche Anerkennung zu stärken, hat dabei für sie einen besonderen Wert. So erzählt die Geschichte der hörbeeinträchtigten Swantje beispielsweise von einem Leben "zwischen den Welten" der hörenden und gehörlosen Gesellschaft. Die entstehenden Tonstücke sind auf Spotify und der Website des Museums digital archiviert und dort jederzeit abrufbar.

Die Inventarbehälter voller Leben ergänzen das Audio-Archiv.  | Foto: Felix Pasternak
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Die erste Erzählerin war Esther, damals 67 Jahre, behaftet mit einer Geschichte der Flucht, Trennung und Neuorientierung. Sie hat in Deutschland sehr lange als Lehrerin gearbeitet. Ihre religiöse, familiäre sowie berufliche Vergangenheit fließt maßgeblich in ihre Ausführungen ein. Der Behälter im Museum, der ihr ganz individuelles Inventar in unverfälschter Form darlegt, ist ein Fenster zu ihrer Welt: "Es ist die Reflektion eines Lebensabschnitts. Es geht darum, eine jüdische, israelische und anderweitig vielfältige Geschichte zu offenbaren."

Um auf allen Ebenen in diese Welt einzutauchen, nehmen Besucher und Besucherinnen mit den Behältern und technischem Gerät – bestehend aus Tablet, Kopfhörern und, falls nötig, Diabetrachter, Walkman oder weiterem – in einer der angefertigten "Boxen" platz. In einer offen stehenden Konstruktion schaffen diese kleinen, verschieden gestalteten Räume eine jeweils eigentümliche Atmosphäre. Zweck ist es, der persönlichen Vorliebe entsprechend eine Box zu bieten. Falls alle Boxen besetzt sind, stehen weitere Sitzgelegenheiten zur Verfügung.

Dieses Eintauchen findet im rechten Teil des kleinen Museums statt. Links befindet sich für alle später noch bestehenden Fragen, Gedanken oder Meinungen ein von Vorhängen umgebener, runder Gesprächssaal. Dort und auch im nebenstehenden Café schuf Innenarchitekt Peter Kurz Orte für kulturelles Zusammenkommen. Sowohl die Inventarbehälter als auch die Aufenthaltsboxen und das Café befinden sich in stetigem Wandel, da der thematische Ausstellungsfokus jährlich aktualisiert wird. So sollen auch Rezepte, Tee- oder Kaffeesorten der Erzählenden eintreffen und dabei mithelfen, dass Menschen einander über die Inhalte der Geschichten kennenlernen und verstehen. Allem voran jedoch werden fortdauernd neue Lebensgeschichten gesammelt und bestehende angereichert, sodass das Audio-Archiv wie auch die ausgestellten Behälter in ihrem Inhalt und Kontingent wachsen.

Das "Polyrama – ein Museum für Lebensgeschichten" , Stuttgarter Platz 2, ist Mittwoch bis Sonntag, 11 bis 18 Uhr, sowie Donnerstag bis 20 Uhr geöffnet. Das diskriminierungsfreie Eintrittskonzept soll jeder interessierten Person ermöglichen, "Polyrama" zu besuchen. Grundsätzlich ist die Entrichtung eines Eintrittsgeldes daher freiwillig. Ein Ticket kostet fünf, ermäßigt drei und als Soli-Ticket acht Euro. 

Autor:

Felix Pasternak aus Bezirk Spandau

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