"Geschenkte Zeit": S-Bahn beauftragt Stadtmission für besondere Obdachlosenhilfe

Mit den Menschen dort ins Gespräch kommen, wo sie sich aufhalten, ist der Auftrag für Wilhelm Nadolny (vorne) und Sascha Sträßer. So wie hier im Ostbahnhof. | Foto: Thomas Frey
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  • Mit den Menschen dort ins Gespräch kommen, wo sie sich aufhalten, ist der Auftrag für Wilhelm Nadolny (vorne) und Sascha Sträßer. So wie hier im Ostbahnhof.
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Friedrichshain. Wer regelmäßig mit der S-Bahn unterwegs ist, wird häufig mit Menschen konfrontiert, die auf der Straße leben.

Einige von ihnen verkaufen Obdachlosenzeitungen, andere betteln um Geld. Sie gehören inzwischen zum Inventar. Schwieriger wird es bei Mitfahrern, die oft einen mehr oder weniger apathischen Eindruck machen; deren Auftreten hohen Alkoholgehalt oder den Konsum anderer Drogen nahelegen, von denen eine starke Geruchsbelästigung ausgeht und deren Hinterlassenschaft auf den Sitzen nicht dazu einlädt, dort danach Platz zu nehmen.

Vor allem um diese Gruppe kümmert sich jetzt das Projekt Mobile Einzelfallhelfer, das am 20. April vorgestellt wurde. Auftraggeber ist die S-Bahn, durchgeführt wird es von der Berliner Stadtmission. Die Aufgabe: Menschen, die sich in einem völlig verwahrlosten Zustand und teilweise lebensgefährlicher Situation befinden, anzusprechen und einen regelmäßigen Kontakt herzustellen. Erreicht werden soll damit zumindest ein Stabilisieren der persönlichen Umstände, im besten Fall eine neue Perspektive. Die S-Bahn erhofft sich dadurch weniger Probleme für ihre Nutzer. Sie bezahlt für das Projekt bis zum Jahresende 65 000 Euro. Damit werden vor allem eineinhalb Stellen für die beiden mobilen Helfer finanziert.

Sie heißen Wilhelm Nadolny (35) und Sascha Sträßer (29) und sind seit Januar im Einsatz. Rund ein Dutzend Kontakte habe er seither hergestellt, sagt Wilhelm Nadolny. Bei drei bis vier habe sich der inzwischen intensiviert. Sie gehen meist selbst auf die Menschen zu, erhalten aber auch manchmal Informationen von der S-Bahn-Sicherheit, wo sich jemand befindet, der vielleicht Hilfe braucht. Die Ansprache erfolgt bisweilen in den Zügen, meist aber im oder um die Stationen. Dort gebe es natürlich einige Brennpunkte, etwa am Ostbahnhof, Hauptbahnhof, Bahnhof Zoo oder in Neukölln.

Das Schaffen einer Vertrauensbasis sei der schwierigste Teil, meint auch Sascha Sträßer. "Du triffst jemanden, kommst ins Gespräch, hoffst dann, dass du ihn am nächsten oder den folgenden Tagen erneut siehst." Wenn der Obdachlose seine "Platte", also seinen regelmäßigen Aufenthaltsort nenne, sei das schon ein erster Erfolg. Wichtig sei in jedem Fall, behutsam vorzugehen, sich Belehrungen zu ersparen und auch Rückschläge in Kauf zu nehmen. Sie könnten Unterstützung anbieten, ob sie angenommen wird und daraus vielleicht ein Neustart resultiert, müssten die Personen aber selbst entscheiden.

Für jeden "Kunden" sind bis zu 100 Stunden eingeplant, was ihren Beteuern einige Möglichkeiten einräumt. "Das Projekt ist geschenkte Zeit", meint deshalb Stadtmission-Sprecherin Ortrud Wohlwend.

Beispiele von seit Jahren zementierter Obdachlosigkeit und ihre Folgen sind an vielen Stellen sichtbar, machen unter Menschen ohne festen Wohnsitz aber nicht den größten Anteil aus. Jörk Pruss, Leiter des S-Bahn Securitymanagement spricht von wenigen Händen voll, die häufig bekannt seien. Die Stadtmission scheint die Zahl etwas höher, nämlich im niedrigen einstelligen Prozentbereich unter allen Obdachlosen einzustufen. Geht man nur von mindestens 4000 Menschen auf der Straße aus, wären das ungefähr um die 100. Diese Gruppe sei aber vor allem das Problem, macht der Sicherheitschef deutlich. Schon das Auftreten einer Person in der S-Bahn beeinträchtige andere Menschen im Zug. Ordnungsmaßnahmen würden kaum greifen. Deshalb wäre es zur Kooperation mit der Stadtmission gekommen, die schon durch bisherige Initiativen in dieser Richtung über entsprechendes Know-how verfüge.

Dem Auftragnehmer geht es noch um mehr. Nämlich darum, niemanden verloren zu geben, wie aussichtslos seine Situation auch erscheint.

Wie erfolgreich das Agieren der mobilen Einzelfallhelfer war, wird zum Jahresende bilanziert und dann über eine eventuelle Fortsetzung entschieden. Als Ergebnis sollte natürlich eine Verbesserung stehen, meint Jörk Pruss. Was wohl konkret heißt: Die S-Bahn möchte, dass sich die Zahl dieser "Fahrgäste" reduziert.

Wilhelm Nadolny und Sascha Sträßer berichteten auch bereits über erste Erfolge ihrer Arbeit. Etwa bei einer Frau, die vor fünf Monaten nahe am Tod gewesen sei. Mittlerweile habe sie eine, zumindest provisorische, Unterkunft, erhalte inzwischen finanzielle Leistungen aus dem Sozialsystem und "war vor einigen Tagen zum ersten Mal wieder im Kino." Erste kleine Schritte zurück ins "normale" Leben. tf

Autor:

Thomas Frey aus Friedrichshain

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