Berlinale 2019 – Aufbruchstimmung

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Bei der diesjährigen Berlinale war teilweise eine Aufbruchstimmung zu verspüren: die Menschen lassen sich zusehends nicht mehr alles gefallen und begehren auf gegen Rassismus, Sexismus, Antisemitismus, Islamophobie, Homo- und Transphobie und alle anderen Formen der Unterdrückung. Das hat auch der scheidende Direktor der Berlinale Dieter Kosslick in seiner letzten Pressekonferenz betont!

Bei den Beiträgen in den Sektionen „Panorama“, „Forum“, „Wettbewerb“ und „Generation“ ging es oft um die Auswirkungen des neoliberalen Kapitalismus auf menschliche Beziehungen, sich verschärfende Klassengegensätze weltweit und auch Umweltzerstörung.

Im „Generation K Plus“ Beitrag „2040“ (Australien 2019) zeigt der engagierte Dokumentarfilmer Damon Gameau auf, wie wir durch Änderung unseres Verhaltens in den nächsten zwanzig Jahren eine Verbesserung der Lebensverhältnisse auf der Erde herbeiführen könnten. Die industrielle Landwirtschaft wird sehr kritisiert, da die Lebensmittel extrem belastet sind, die Erde chemisch verseucht wird und es nur sehr wenige Profiteure gibt. Auch Bildung insbesondere für Frauen und Mädchen sind existenziell wichtig, da Mädchen und Frauen so in die Lage versetzt werden, ihr Schicksal selbst in Hand zu nehmen. Leider wird das Wort Kapitalismus nicht einmal erwähnt, anstatt dessen wird immer wieder betont, dass „unser Wirtschaftssystem“ die Menschen krank macht und den Planeten ruiniert, aber es ist nicht „unser Wirtschaftssystem“, sondern das Wirtschaftssystem der Großkonzerne. Das wurde bedauerlicherweise in diesem ansonsten auf für Kinder und Jugendliche gut gemachten Film nicht deutlich. So begrüßenswert es auch ist, wenn Menschen bewusster ihre individuellen Kaufentscheidungen fällen, so bleiben doch die Strukturen, die von Ausbeutung und Zerstörung geprägt sind, erhalten.
Besonders krass wird die gnadenlose Ausbeutung im Panorama Beitrag „Buoyancy“ (Australien 2019): Der in Kambodscha lebende 15jährige Chakra arbeitet hart auf den Reisfeldern seiner Eltern und findet nicht genug Anerkennung. Deshalb beschießt er eines Tages abzuhauen, um in einer Fabrik Geld zu verdienen. Anstatt dessen wird er jedoch von skrupellosen Menschenhändlern an einen brutalen Kapitän eines Fischkutters als Sklave verkauft. Immer wieder ist er schlimmsten Demütigungen und auch körperlicher Gewalt ausgesetzt. Am Ende gibt es für ihn keinen anderen Ausweg, als seinen Peiniger zu töten. In einigen Ländern Asiens, aber auch in Afrika sind Arbeits- und Jugendschutz leider absolute Fremdwörter oder die Verantwortlichen schauen bewusst weg. Auch die Industrieländer schweigen dazu und nur ab und an hört man mal Lippenbekenntnisse von Politiker*innen der Industrieländer, wo diese unhaltbare Zustände anprangern.
Im ebenfalls im Panorama gezeigten israelischen Beitrag „The Day after I’m gone“ (Israel 2019) geht es um das schwierige Verhältnis zwischen dem alleinerziehenden Parkranger Yoram und seiner Tochter Roni. Zunehmend macht sich Sprachlosigkeit breit und aus lauter Verzweiflung unternimmt Roni einen Suizidversuch. Der Vater wirkt ratlos und meint, dass ein Besuch bei den Verwandten Roni aufheitern könnte. Als Yoram so beiläufig den Suizidversuch seiner Tochter erwähnt, reagiert die Verwandtschaft ziemlich verstört und vertritt die Ansicht, dass so etwas nicht auf die leichte Schulter zu nehmen sei und dass Roni professionelle Hilfe bräuchte. Roni fällt auf, dass eher über sie, als mit ihr geredet wird. Es wird deutlich, dass sich in den modernen Ländern zunehmend eine Entfremdung zwischen den Menschen breitmacht, viel Arbeit, Geld, Reichtum treten an die Stelle von Wärme, Liebe und Kommunikation.
Das ist auch ein ganz wesentlicher Aspekt im österreichischen Wettbewerbsbeitrag „Der Boden unter den Füßen“ (Österreich 2019): die beruflich erfolgreiche Unternehmensberaterin Lola hat so gut wie kein Privatleben und pendelt permanent zwischen den zu „betreuenden“ Firmen, hin und her. Hier geht es knallhart zu: „überzählige“ Menschen zählen nicht und werden „entsorgt“, angeblich um die überwiegende Anzahl der Belegschaft zu retten. In einem dieser sehr immer wieder gleichartigen „Gespräche“ hat eine betroffene Mitarbeiterin keine Lust, die Form zu wahren und verlässt den Raum, nachdem sie Lola noch entgegnet, dass diese eiskalt sei und nur an sich denke. Im ersten Moment ist Lola etwas .betroffen und geht ihr noch hinterher, aber dann geht es weiter wie immer. Auch die Beziehung zu ihrer Partnerin, die in der Firma in der Hierarchie über ihr steht, ist von schnellem Sex in teuren, aber sterilen Hotels gekennzeichnet. Wenn sich die beiden unterhalten, dann meistens wieder über Firmenbelange. Irgendwann kommt bei einem Telefonat von Lola mit einer Psychiatrie kommt dann heraus, dass sie noch eine ältere Schwester hat, die schwer depressiv ist und einen Suizidversuch unternommen hat. Lola hat das ihrer Freundin verschwiegen und immer behauptet, dass sie Einzelkind sei. Man bekommt den Eindruck, als wenn Lola alles Problematische extrem von sich abspaltet, psychische Probleme von Angehörigen haben in der glamourösen Businesswelt eben keinen Platz. Als Lola sich zwischen Tür und Angel und ihre Schwester dann doch kümmert, wird sie dann auch sofort eindringlich ermahnt, dass sie privates und berufliches trennen müsse, kurz, sie muss funktionieren. Lola bemerkt nicht, dass sie nur ein Werkzeug im zutiefst von patriarchalischen Strukturen geprägten Kapitalismus ist. Der Sexismus der männlichen Kollegen wird bei einem Abendessen sehr plakativ, wenn auch leider in einer nicht unrealistischen Szene deutlich, als ein männlicher Kollege Lola sagt, dass viele Kollegen ihr jetzt einfach zwischen die Beine greifen würden. Er dagegen hätte Stil und mache so etwas nicht, er fragt vorher! Solange Gesellschaften kapitalistisch organisiert sind, wird sich an den Strukturen auch nichts Grundlegendes ändern, auch wenn Frauen zunehmend bessere Jobs in Führungspositionen erlangen. Auch wenn dies als erstem Schritt natürlich absolut positiv zu bewerten ist, Feminismus sollte hier nicht stehenbleiben und nicht vor der Klassenfrage halt machen.
Aus im US-amerikanische Beitrag „Goldie“ (USA 2019), gezeigt in der Sektion „Generation 14+“, geht es um menschliche Beziehungen, allerdings ganz anderer Art: der Teenager Goldie versucht sich mit ihren beiden Schwestern durchzuschlagen, nachdem ihre alleinerziehende Mutter verhaftet wurde. Aus Not stiehlt sie und versucht, mal hier, mal dort beim von der Mutter geschiedenen Vater unterzukommen. In den westlichen Industrieländern, die sich ja immer gern für Freiheit, Demokratie und Menschenrechte rühmen, werden immer mehr ganze gesellschaftliche Gruppen ausgegrenzt und marginalisiert. Menschen werden sich selbst überlassen, eine wirklich zynischer Freiheitsbegriff: die Freiheit, im Zweifel am Straßenrand zu krepieren. Goldie kämpft wirklich tapfer und trotz ihrer zum Teil sehr schrägen Charakterzüge auf jeden Fall Sympathieträgerin. Sie träumt, als Tänzerin in Hip Hop Videos berühmt zu werden, aber als sie bemerkt, dass die cool wirkenden Männer sie auch sexuell ausnutzen wollen, verlässt sie wortlos das Set. Am Ende verliert sie den Kampf und das Jugendamt nimmt ihr ihre beiden jüngeren Schwestern weg, um diese bei Pflegeeltern unterzubringen.
Ganz anders sind die Forum Beiträge „Fukuoka“ (Republik Korea 2019) und „Man You“ (Volksrepublik China 2019). Die junge So-dam reist mit dem wesentlich älteren Secondhandbuchhändler Jea-moon nach Fukuoka, das in Japan liegt. Dort besuchen sie Hae-hyo, mit dem Jea-moon einmal sehr eng befreundet war. Die Freundschaft zerbrach, als sich beide vor 28 Jahren in dieselbe Frau verliebt hatten. Ein leiser Film mit intensiven, inhaltsreichen Dialogen, ein Film, der einfach Freude macht. Es geht hier um das von Leben an sich, um Liebe, Zuneigung und menschliche Wärme.
Der in der südchinesischen Stadt Hangzhou angesiedelte Film „Man You“ handelt von der 14-jährigen Senlin, die nicht nur unter der Hitze leidet, sondern auch auf der Suche nach einem Thema für einen Schulaufsatz ist. Der Besuch ihrer Tante Qiu Xiaqius, die ihrer Nichte viele geheimnisvolle Geschichte erzählt, inspirieren Senlin. Auch ein leiser, unspektakulärer Film, der von wunderbaren Dialogen und wunderbaren Bildern geprägt ist. Auch wenn die Republik Korea und die Volksrepublik China moderne Industrieländer sind, so sind die Menschen noch (!) nicht so von neoliberalen Geist durchdrungen, es bleibt noch Zeit für Miteinander, gutes Essen, für das man sich Zeit nimmt und inhaltsreiche Dialoge.
Positiv zu erwähnen sind noch die ungewöhnlichen Beiträge „The Body Remembers When the World Broke Open“ (Kanada / Norwegen 2019), „Bulbul can sing“ (Indien 2018), der Panorama Publikumsgewinner „37 Secinds“ (Japan 2019) sowie der italienische Film „Dafne“ ( Italien 2019, Gewinner der Sektion Panorama der unabhängigen Jury der Fédération Internationale de la Presse Cinématographique“ (FIPRESCI)).
Vielleicht schafft es der eine oder andere Film ja zumindest in eine der Independent oder Kinos der Yorck-Gruppe, das wäre sehr begrüßenswert!
Kai Jensen

Autor:

Kai Jensen aus Halensee

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