Jetzt tickt sie wieder:
Nach 58 Jahren läuft die originale Turmuhr der gesprengten Versöhnungskirche weiter

Jörg Hildebrandt war Uhrenwart und hat die Zeiger aus Protest gegen die Räumung 1961 auf fünf vor Zwölf gestellt. Jetzt hat er die rekonstruierte "Uhr der Versöhnung" im Foyer der Diakonie mit Diakonie-Präsident Ulrich Lilie wieder angestellt.
 | Foto: Dirk Jericho
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  • Jörg Hildebrandt war Uhrenwart und hat die Zeiger aus Protest gegen die Räumung 1961 auf fünf vor Zwölf gestellt. Jetzt hat er die rekonstruierte "Uhr der Versöhnung" im Foyer der Diakonie mit Diakonie-Präsident Ulrich Lilie wieder angestellt.
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30 Jahre nach dem Fall der Mauer schlägt seit dem 28. August die Turmuhr der 1985 gesprengten Versöhnungskirche wieder. In einer einzigartigen Spendenaktion hat die Versöhnungsgemeinde das originale Uhrwerk  als "Uhr der Versöhnung" restauriert.

Noch bevor die DDR-Vopos Jörg Hildebrandt am Vormittag des 26. Oktober 1961 vom Kirchturm zerren konnten, hatte der „aufmüpfige Pfarrerssohn“, wie es damals im Polizeibericht hieß, die riesigen Zeiger als Zeichen des Protestes auf fünf vor Zwölf gestellt. Hildebrandt war einer der letzten Anwohner der Bernauer Straße, der zwangsgeräumt wurde. Die Versöhnungskirche stand wie seine Wohnung an der Bernauer Straße 4 mit der Grenzschließung am 13. August 1961 mitten im Mauerstreifen. Alle Bewohner mussten raus, die Häuser wurden abgerissen.

Der Journalist Jörg Hildebrandt, Ehemann der 2001 verstorbenen Brandenburger Sozialministerin Regine Hildebrandt, hatte sich als Uhrenwart ein paar Ostmark dazu verdient. Dass „seine Uhr“, deren Zeit er damals anhielt, 58 Jahre später wieder tickt, hat er bei seiner mutigen Aktion 1961 nicht geglaubt und erst recht nicht, als die Versöhnungskirche 1985 in Schutt und Asche versank. „Es ist ein Wunder“, sagte der 80-Jährige bei der Wiederinbetriebnahme der Uhr anlässlich des 125. Gründungsjubiläums der alten Versöhnungskirche am 28. August. Er hat das Pendel des restaurierten Uhrwerks um exakt 11.55 Uhr wieder in Bewegung gesetzt.

Uhrwerk schlägt hinter Plexiglas

Die Zeit läuft jetzt im Foyer des Evangelischen Werks für Diakonie und Entwicklung in der Caroline-Michaelis-Straße 1 am Nordbahnhof weiter. Dort steht das historische Uhrwerk hinter Plexiglas. In der Kapelle der Versöhnung – der runde Lehmbau an der Stelle der gesprengten Kirche – war kein Platz. Die originale Turmuhr konnte restauriert werden, weil sie vor der Sprengung durch das SED-Grenzregime 1985 ausgebaut wurde.

Die 1894 errichtete Versöhnungskirche ist Symbol der brutalen Teilung, die auch die Gemeinde von jetzt auf gleich auseinanderriss. Das Gotteshaus stand über zwei Jahrzehnte gespenstisch leer im Todesstreifen an der Bernauer Straße. Grenzsoldaten hielten vom Turm Ausschau, bis das Gotteshaus für eine freie Schussbahn fiel.

Das 200 Kilogramm schwere Uhrwerk wurde anfangs in der Sophienkirche gelagert. Als vor sechs Jahren die Mauergedenkstätte in der Bernauer Straße 111 saniert wurde, sollte Pfarrer Thomas Jeutner den Keller des einstigen Gemeindehauses ausräumen. Dabei fand er jede Menge Stangen, Zahnräder und Ketten – Teile der originalen Turmuhr. Das Zeug wurde in der Scheune eines Bauern in Lindenberg eingelagert. Als der es wieder loswerden wollte, dachte sich Jeutner im vergangenen Jahr, dass man das Uhrwerk restaurieren und die Uhr wieder zum Laufen bringen sollte.

Ortrud Hamann von der Versöhnungsgemeinde hatte die Idee, jede Minute auf dem Ziffernblatt in einer Spendenaktion anzubieten. Von 0 bis 12 Uhr standen 720 Minuten für die Aktion „Gönn Dir eine Minute“ zur Verfügung. Um die 35 000 Euro für die Uhrrestaurierung zusammenzubekommen, mussten Minutenkäufer mindestens 45 Euro bezahlen.

„Die Uhr ist ein gemeinsames Projekt vieler“, sagte Pfarrer Thomas Jeutner bei der Feier zum 125. Gründungsjubiläum, zu der Spender aus aller Welt – Deutschland, Dänemark, Österreich, Schweden und Frankreich – gekommen waren. „Jeder verbindet mit seinen erworbenen Minuten ganz persönliche Geschichten“, so Jeutner. Die Gemeinde plant zu diesen vielen berührenden Geschichten ein neues Projekt. Insgesamt gab es 252 Spender. Manche haben für eine Minute gespendet, manche für eine halbe Stunde. Der Preis von 45 Euro war nur ein Richtwert. Die größte Einzelspende kam von der Friede-Springer-Stiftung, die 5000 Euro für eine Minute gegeben hat. Der ehemalige Uhrenwart Jörg Hildebrandt hat die Minuten von 11.55 bis 12 Uhr erworben. Seine Zeit. Tochter Elske widmete er die Minute 11.55, die Minute 56 Sohn Jan, die 57 Tochter Frauke, die 58 seiner Ehefrau Regine und die 59 sich selbst.

Ziffernblatt aus der Zionskirche

Zusammengebaut wurde das Uhrwerk von den Turmuhrenspezialisten der Firma Bittner in Neuenhagen bei Berlin. Zwei Drittel der Teile waren vorhanden und wurden restauriert. Wie Holger Bittner sagte, mussten auch Dutzende Stangen und Räder nachgebaut werden. An der Wand drehen sich die Originalzeiger. Bittner musste sie allerdings um fünf Zentimeter kürzen, denn das Zifferblatt ist nicht das originale. Die Turmuhr der Versöhnungskirche war so konstruiert, dass die Zahlen mit dem Turm verbunden waren. Auf dem Kirchturm der Ostberliner Zionskirche fand die Versöhnungsgemeinde Ersatz. Für den jetzigen Standort im Foyer der Diakonie haben die Turmuhrenbauer das Zifferblatt aufgearbeitet und für die Wandaufhängung einen Rahmen konstruiert. „Den haben wir auf alt gemacht, damit es nicht auffällt“, so Holger Bittner. „Die Zionskirche ist unsere Schwesterkirche. Sie war Zentrum der DDR-Bürgerbewegung und ist Symbol der friedlichen Revolution“, sagt Pfarrer Thomas. Auch eine schöne Geschichte, dass das Zion-Zifferblatt in der neuen Installation mit dem Versöhnungsuhrwerk zur "Uhr der Versöhnung" verschmilzt.

Mehr Informationen unter http://uhr-der-versöhnung.de.

Autor:

Dirk Jericho aus Mitte

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