Sehnsucht nach der Vergangenheit
Die Nostalgie des alten West-Berlins festgehalten in zwei Büchern

Auszug aus "Unser West-Berlin". Das Foto zeigt die Mauer an der Waldemarbrücke. Die Aufschrift "Volkszählungsboykott" weist auf das Jahr 1987. | Foto: Thomas Frey
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  • Auszug aus "Unser West-Berlin". Das Foto zeigt die Mauer an der Waldemarbrücke. Die Aufschrift "Volkszählungsboykott" weist auf das Jahr 1987.
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Früher war natürlich nicht alles besser. Aber je älter jemand wird, desto mehr gibt es den Rückblick auf vergangene Zeiten. Nicht immer nur verklärt, aber doch als wichtige Episode .Zwei jüngst erschiene Bücher zeugen davon. Sie gehen zurück in die Zeit der Insel West-Berlin.

"Unser West-Berlin" heißt dann auch eines davon. Es besteht zu größten Teilen aus Erlebnisberichten von Menschen, die während der Mauerzeit sozialisiert wurden oder bereits damals eine aktive Rolle gespielt haben. Häufig handelt es sich um bis heute bekannte Vertreter aus der Medienbranche. Kreuzberg spielt in vielen dieser notierten Erfahrungen eine wichtige Rolle – als Epizentrum und Sehnsuchtsort aller Nonkonformisten oder solchen, die sich dafür hielten.

Auch im zweiten Nostalgiewerk ist das so, wenn auchmanchmal eher angedeutet: im Comic mit dem Titel "RRWB". Die Abkürzung steht für "Räterepublik Westberlin". Darin wird durchgespielt, was passiert wäre, wenn es den "68ern" wirklich gelungen wäre, die Macht in der Halbstadt zu erobern.

Reale 68er neben fiktiven Figuren

Der Plot ist erst einmal ganz interessant, seine Umsetzung, für die Jörg Mailliet, Thomas Jaedicke und Jörg Ulbert verantwortlich zeichnen, eher weniger. Am nachvollziehbarsten ist noch die Botschaft, dass es bei einer Herrschaft der Studentenbwegung und ihrer Epigonen sehr ungemütlich geworden wäre. Denn die Räte machen ernst mit ihrem Ziel, einen "neuen Menschen" zu kreieren. Privates Eigentum wird abgeschafft, Werte, die sich in manchen Villen befinden, konfisziert. Ralf Schidrawski, einer der fiktiven Protagonisten, ist für das Aufspüren wertvoller Gemälde verantwortlich. Er bedient sich dabei aber auch selbst und landet erst einmal in einem Lager.

Daneben tauchen mehrere wirkliche Repräsentanten des Protests der späten 60er-Jahre auf: der spätere Terrorist Andreas Baader, Anwalt Horst Mahler, eine Art Führer der Räterepublik, der im wirklichen Leben vom damaligen Linksradikalen inzwischen als Rechtsradikaler bei der NPD gelandet ist. Nur eine Nebenrolle bleibt für den Studentenführer Rudi Dutschke.

Getagt wird im Springer-Hochhaus. Und Kreuzberg heißt jetzt nach dem Schriftsteller "Ernst-Toller-Bezirk". Um das Volk zu stimulieren, kommt die Droge Pervitin massenweise in Umlauf. Als deren Nachschub stockt, wird das Ende der Räterepulik eingeläutet.

Zeitreise für Zeitgenossen

Trotz vielem Boom, Krach und Qualm ist das Buch vor allem eine Zeitreise für Zeitgenossen. Nachgeborene müssen wahrscheinlich jeden zweiten Namen googlen, weil er ihnen nicht mehr geläufig ist. Aber wer sich auf das Werk einlässt, wird zu dem Schluss kommen, dass es wohl ganz gut ist, dass es so nicht gekommen ist.

"Unser West-Berlin" geht teilweise ebenfalls in diese Epoche zurück, reicht aber bis in die späten 80er-Jahre. Es ist deshalb, und weil auf realen Erfahrungen beruhend, eher ein Anknüpfungspunkt, um heutige Entwicklungen zu verstehen, etwa, wie der "Mythos Kreuzberg" entstand. Dass Schlagworte wie Kahlschlagsanierung, der Zuzug von Migranten, Studenten und Aussteigern in eigentlich für den Abriss bestimmte Wohnungen aus dem Bezirk einen besonderen Biotop machten, lässt sich aus den Geschichten noch einmal nachvollziehen. Auch, dass die Neubürger nicht immer als Bereicherung für den Kiez empfunden wurden.

Und es wird an manche heute legendäre und verklärte Ereignisse erinnert, etwa die Hausbesetzerbewegung zu Beginn der 1980er-Jahre, die den Abriss manchmal ganzer dafür vorgesehener Viertel verhindert hat, oder die Tradition des 1. Mai, die in der langen Krawallnacht 1987 gipfelte. Zuvor hatten bereits David Bowie oder "Herr Lehmann" ihre Auftritte. Im Nachhinein ergibt das ein Bild einer ganz speziellen Idylle, die ab 1989 aus ihren Angeln gehoben wurde. Was auch manches Beharrungsvermögen bis in unsere Tage erklärt.

„RRWB Räterepublik Westberlin“ ist im Berlin Story Verlag erschienen und kostet 29,95 Euro. Der Preis für „Unser West-Berlin“, Berlinica Verlag, beträgt 20 Euro.

Auszug aus "Unser West-Berlin". Das Foto zeigt die Mauer an der Waldemarbrücke. Die Aufschrift "Volkszählungsboykott" weist auf das Jahr 1987. | Foto: Thomas Frey
Buchcover von "Räterepublik Westberlin". | Foto: Thomas Frey
Autor:

Thomas Frey aus Friedrichshain

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